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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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konnte. Stein tat mir leid. Ich war ihm dankbar, daß er mich nicht in den Streit mit hineingezogen hatte, und wollte ihn irgendwie aufmuntern. Aber das brauchte er nicht.
»Ich komme nicht mehr ins Labor«, sagte er eines Tages. »Meine Arbeit ist beendet.«
»Erfolgreich?« fragte ich.
»Das wird sich zeigen.«
»Und wie wollen Sie in der Hautabteilung experimentieren?«
»Ich werd’ schon was finden…« Er lächelte rätselhaft. Ich bemerkte, daß er sich besonders sorgfältig rasiert hatte. Vielleicht hatte er sogar Kölnischwasser benutzt.
Der erste Liebhaber
    Ich hörte dann lange nichts mehr von Stein. Zuweilen trafen wir uns bei Versammlungen, grüßten uns flüchtig oder tauschten konventionelle Fragen aus. Ich erhielt auch eine Wohnung in der Stadt, meine Frau mit den Kindern kam, ich hatte eine Menge eigener Sorgen, denn das war keine Komfortwohnung, und meine Frau ist ziemlich anspruchsvoll. Den ältesten Jungen kannte ich gar nicht wieder, er war gerade in der Pubertät, und in letzter Zeit war er meinem Cousin aus Pilsen so ähnlich geworden, daß er mir geradezu widerlich war. Mit dem Cousin hatte ich mich in der Kindheit immer geprügelt, und nun war er auf einmal in neuer Ausgabe in meiner Wohnung. Als hätte ich ein Kuckucksjunges. Und ich erinnerte mich oft an Stein, wenn mein Junge nachdenklich im Zimmer hin und her ging und sich dabei auf seinen Plattfüßen wiegte wie einst mein Cousin. Ich hab’ seit jeher einen hohen Spann, einen schön gewölbten Fuß, in meiner Jugend hatte ich Weitsprung trainiert. Aus meinem Sohn würde kein Athlet mehr werden, das war sicher. Und da mußte ich noch froh sein, daß er nicht dem Bruder meiner Frau ähnelte, diesem widerlichen Schielauge. Wirklich, sagte ich mir, wenn Stein der Versuch gelingt, wird er zum Wohltäter der Menschheit. Vielleicht würde ich mich dann noch um einen Nachkommen bemühen, der natürlich ganz nach mir geraten müßte, er müßte mir aufs Haar ähneln und im Leben alles erreichen, was mir nicht gelungen war. Ich würde ihm das sagen, ich würde ihn vor Fallen und Gefahren warnen. Er müßte genauso gewölbte Füße haben wie ich und bei der Olympiade im Fünfkampf gewinnen. Das wäre das einzige Kind, an dem ich wirklich Freude hätte, denn es wäre wie ich, es würde nicht anstelle von Naturwissenschaften Sprachen studieren wollen wie mein Ältester oder statt Athletik Ballett üben wie meine Tochter. Ich war ein Fremder zu Hause, und mein eigener Nachkomme, mir ähnlich, wird wer weiß wo, wer weiß wem aus unserer Familie geboren, und er wird sich mit ihr ebensowenig verstehen wie ich jetzt mit meiner. Stein hatte recht, ich hielt ihm die Daumen.
    Er hatte sich sehr verändert. Bald sprach jeder im Institut darüber. Er ließ plötzlich beim besten Schneider nähen. Er ging jede Woche zum Friseur und kaufte sich neue Krawatten. Im ganzen Krankenhaus erzählte man, Stein würde Abtreibungen machen, er sei reich geworden dadurch; die Leute kamen zu mir und fragten mich aus.
    »Wir wissen doch, daß ihr befreundet seid…«, sagten sie mit einem Augenzwinkern. Ein paar Angestellte des Krankenhauses kamen zu mir, damit ich bei Stein ein Wort für sie einlege. Damals lief gerade ein Prozeß gegen den hiesigen Zahnarzt, der auf dem Zahnarztstuhl Abtreibungen vorgenommen hatte. Er bekam fünf Jahre ohne Bewährung, denn eine Frau war dabei fast verblutet. Ich wollte nicht in ähnliche Affären mit hineingezogen werden. Und ich beschloß, mit Stein zu sprechen. Aber das war schwer. Er hatte sich auch in seiner Arbeit geändert. Früher war er gewissenhaft, geradezu pingelig, heute vernachlässigte er seine Pflichten, ging nur vormittags auf die Station, und nach dem Mittag verließ er das Krankenhaus unter den verschiedensten Vorwänden. Sein Chefarzt beschwerte sich.
    »Ich bin doch kein Pedant, Hautkrankheiten erfordern Geduld und Duldsamkeit, aber das scheint mir doch zuviel. Wenn sich Herr Stein nicht ändert, melde ich das dem Direktor. Sie sollten mit ihm sprechen«, sagte er. Ich stotterte wie gewöhnlich, daß ich ihn eigentlich gar nicht kenne und daß mich das ganze Krankenhaus irrtümlich für seinen Freund halte. Er glaubte mir nicht, wie alle hier. Sie hielten uns jetzt für so durchtrieben, im geheimen zu arbeiten und uns deshalb nicht zueinander bekennen zu wollen. Ich ging zu Stein in die Wohnung. Er wohnte in einem entsetzlichen Viertel, das gerade abgerissen wurde. Es war im Stadtzentrum, mit engen, krummen

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