Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Bohumir stellte das Brett ab und bediente sich.
Rebekka machte sich wieder an die Arbeit. Nach dem Regal mit den Psalterien brauchte sie eine Abwechslung, also nahm sie sich eine der Truhen vor. Sie fischte einige Schriftrollen heraus, die sie erst einmal zur Seite legte, und stieß auf ein Buch. Es hatte einen einfachen dunkelbraunen Einband und eine Schließe aus leicht angerostetem Metall.
Neugierig schlug sie die erste Seite auf und erstarrte. In lateinischer Schrift sprang ihr ein Satz in die Augen:
Tagebuch der Grafen zu Pasovary. Marie Hochheim, Gräfin Belcredi zu Pasovary, und ihr geliebter Gatte Vita Belcredi, Graf zu Pasovary.
Vita Belcredi und Marie Hochheim. Zum ersten Mal las sie die Namen ihrer leiblichen Eltern. Hochheim! Das konnte nicht wahr sein! Sie kannte diesen Namen. So hieß einer der Rothenburger Ratsherren, ein Freund von Johanns Vater!
Rebekka starrte auf die Worte. Gedanken formten sich in ihrem Kopf. Georg Hochheim und seine Familie hatten nicht weit von ihr gewohnt. War es möglich, dass er ein Verwandter ihrer leiblichen Mutter war? Ihr Vetter? Oder gar ihr Bruder? Hatten ihre Eltern sie deshalb ausgerechnet nach Rothenburg bringen lassen? Sollte sie eigentlich vor dem Haus des Georg Hochheim abgelegt werden? Rebekka rief sich das Haus des Ratsherrn in Erinnerung. Das Holz des Fachwerks war dunkel gestrichen, die Fächer weiß, ungewöhnlich, denn die meisten Häuser in Rothenburg hatten graue Fächer. Rebekka stockte. Auch ihr Elternhaus hatte weiße Fächer. Wer auch immer sie damals auf der Schwelle abgelegt hatte, er hatte vielleicht einfach nur die Häuser verwechselt.
Rebekka wischte sich mit dem Ärmel die schweißnasse Stirn trocken. Verstohlen blickte sie zur Seite, doch sowohl Engelbert als auch Bohumir waren in die Lektüre vertieft und beachteten sie nicht.
Erneut las Rebekka die Namen. Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn der Bote vor siebzehn Jahren nicht die Häuser verwechselt hätte! Sie wäre als Christin aufgewachsen, und … Rebekka stockte. Womöglich hatte diese Verwechslung ihr das Leben gerettet. Ja, so musste es sein. Ihre Eltern mussten damals auf der Flucht gewesen sein, vermutlich vor den gleichen Männern, die jetzt hinter ihr her waren. Die Verfolger hätten sie früher oder später bei ihrem Onkel aufgespürt. Doch sie waren nie auf die Idee gekommen, in einem jüdischen Haus nach ihr zu suchen.
Rebekka nahm das Buch wieder zur Hand und blätterte weiter. Ihre Hand zitterte dermaßen, dass sie fast das Pergament eingerissen hätte. Der erste Eintrag datierte auf den Karfreitag des Jahres 1332 und stammte von ihrem leiblichen Vater:
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ich beginne am heutigen Tage mit meinen Aufzeichnungen, dem Tag, als unser Herr Jesus Christus, von den Juden verraten und verkauft, am Kreuz die Sünden der Welt auf sich nahm.
Rebekka trieb es die Tränen in die Augen, alles in ihr sträubte sich weiterzulesen. Aber sie konnte nicht aufhören. Hastig wischte sie sich über das Gesicht und fuhr fort.
Gestern hat uns die Nachricht erreicht, dass unser geliebter Sohn Galarich heil in Avignon eingetroffen ist. Niemand weiß, dass er noch lebt, nicht einmal seine treue Amme, die zu Mariä Lichtmess, als wir den Sarg mit dem Hundekadaver beerdigten, Meere von Tränen vergoss. Es dauert mich, meinen Hausstand so unglücklich zu sehen, doch nur so ist der Junge sicher. So Gott will, kommt Marie bald nieder, und dann wird erneut Kindergeschrei diese Hallen erfüllen und die Trauernden trösten.
Unser geliebter Sohn Galarich! Rebekkas Hände zitterten so sehr, dass sie Angst hatte, das Buch fallen zu lassen. Sie hatte einen Bruder! Immer hatte sie nur an ihre Eltern gedacht, nie war sie auch nur auf die Idee gekommen, dass sie Geschwister haben könnte.
Avignon. Das war die Stadt, in der der Papst residierte. Ob ihr Bruder noch dort lebte? Ob er überhaupt noch lebte? Falls ja, war er längst ein erwachsener Mann, so wie sie, seine jüngere Schwester, inzwischen eine Frau war.
Sie blätterte weiter, mehrere Einträge berichteten über das Leben auf Pasovary, immer wieder war von der baldigen Niederkunft Maries die Rede, aber auch von der Gefahr, in der sie alle schwebten. Und davon, dass sie vielleicht bald aus dem Land fliehen mussten.
Oft schrieb Vita Belcredi nicht nur Ereignisse, sondern auch seine Gedanken nieder, machte seinem Ärger Luft oder haderte mit seinen Glaubensbrüdern. In der Woche nach
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