Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Ostern schrieb er:
Wie kann ein gottesfürchtiger Mensch nur so grausam sein! Fast ein ganzes Dorf ist verhungert, weil ein Burgherr den Menschen alles Getreide abgenommen hat, damit er sich über den Winter einen dicken Bauch anfressen konnte.
Hat Gott uns nicht aufgetragen, unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst? Heißt das nicht, dass wir auch in der Not teilen müssen?
Niemals würde ich zulassen, dass meine Leute vor Hunger sterben müssen. Aber die Strafe Gottes hat ihn getroffen! Kaum hatte die Märzsonne den Schnee geschmolzen, als eine Krankheit auf seiner Burg wütete und nur eine Handvoll Menschen verschonte.
Mich und mein Weib aber belohnt der Herr! Marie liegt endlich in den Wehen. Es wird ein Kind der Hoffnung sein. Wird es ein Sohn, so soll er Wenzel, wird es eine Tochter, soll sie Amalie heißen.
Rebekka starrte auf die Buchstaben, die federleicht über das Pergament tanzten. Ihr Vater hatte eine wunderschöne Handschrift. Und er war ein guter Mensch gewesen. Auch wenn er, wie fast alle Christen, die Juden verachtet hatte. Vater! Es klang nach wie vor falsch, doch nicht mehr so fremd wie noch kurz zuvor. Sie stellte sich vor, wie er hier gesessen hatte, die Feder in der Hand und das Herz schwer von Verantwortung und Sorge. Die Katastrophe musste unmittelbar bevorgestanden haben.
Hastig blätterte sie weiter, die Aufzeichnungen brachen wenige Tage später ab. Der letzte Eintrag lautete:
Wir müssen fliehen! Der Feind hat uns enttarnt, er weiß nun, dass die Belcredis die letzten Hüter sind. Unerbittlich rückt er auf Pasovary vor, und niemand kann uns zu Hilfe eilen. Meine Getreuen werden ihn aufhalten, solange sie können, werden uns die Flucht ermöglichen. Wie gut, dass wir unseren Sohn rechtzeitig fortschicken konnten! Auch die kleine Amalie werden wir sicher unterbringen. Sie wird das Geheimnis schützen, unerkannt von unseren Feinden, eine Gleiche unter Gleichen, wie die Steine des Pflasters, über das wir achtlos schreiten. Auf diesem winzigen Säugling ruht nun die Verantwortung für die gesamte Christenheit. Doch ich bin sicher, dass Gott sie beschützen wird. Unser eigenes Leben geben wir gern hin, wenn nur unsere Tochter verschont bleibt. Herr, sei unseren Seelen gnädig!
***
Ein Hahn krähte. Johann war sofort hellwach. Heute begann Purim. Schmul ben Asgodon hatte ihn in sein Haus nahe der Moldau eingeladen und angedeutet, er habe ein besonderes Geschenk für ihn.
Aber vorher war Dietz an der Reihe. Johann ging in die Küche, die Magd füllte ihm unaufgefordert einen Teller mit Grütze, die jeden Tag einen anderen Geschmack hatte; mal schmeckte sie nach Zimt, mal nach Honig und mal nach einem Gewürz mit einem unaussprechlichen Namen, das Johann besonders gern mochte.
Nachdem er den Teller geleert hatte, nahm er sich noch ein Stück Käse und begab sich auf die Suche nach seinem Gastgeber. Dietz stand bereits in seiner Schreibkammer und betrachtete das Pergament, auf dem Johann säuberlich alles aufgelistet hatte, was der Kaufmann in den letzten drei Jahren eingenommen hatte – und was er Lieferanten und Geldleihern noch schuldig war. Inzwischen konnte Dietz bereits Zahlen lesen, auch einige Begriffe aus dem Rechnungswesen waren ihm vertraut.
»So, Dietz«, sagte Johann kauend, »jetzt bist du dran.«
Dietz grinste. »Darauf hast du lange gewartet, mein Freund, habe ich Recht?«
Johann erinnerte sich an den Abend, als sie begonnen hatten, auf die förmliche Anrede zu verzichten. Über Prag war ein Schneesturm hinweggefegt, im Kamin hatte das Feuer geprasselt, und die Magd hatte ein knuspriges Huhn aus dem Backofen gezogen und es mit Schwarzwurzeln, Gelbrüben, frischem Brot und Apfelkompott serviert. Sie hatten erst aufgehört zu essen, als sie das letzte Fitzelchen Fleisch vom Knochen genagt und das letzte Stück Brot in die Soße getunkt hatten. Dietz hatte dabei so viel Wein getrunken, dass er schon bald nach ihrem Festschmaus ein Lied anstimmte. Irgendwann war Johann in den Gesang eingefallen, und dann hatten sie bis in die Morgenstunden Lieder geschmettert, sehr zum Leidwesen der Magd.
Dietz kratzte sich am Kinn und zeigte auf die Überschrift der ersten Spalte. »Da steht alles, was ich an Geld bekommen habe, richtig?«
Johann nickte. »Sehr gut!«
»Dann steht in der anderen Spalte alles an Geld, was ich anderen geben muss.«
»Ausgezeichnet. Dein Magister ist zufrieden mit dir.«
Dietz schaute sich die Zahl an, die ganz unten stand. »Sind das meine
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