Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Drache schnaubte, mit den Augen rollte, wendete und dann auf den Wagen zu preschte. Rebekka hielt den Atem an: Der Wagen war an den Stützen festgemacht, die die baufällige Burgmauer notdürftig stabilisierten. Sie wollte den Wagenführer warnen, aber es war zu spät. Die beiden Zugpferde blähten die Nüstern, stiegen, sprangen los, die Seile spannten sich, die Stützen wurden weggerissen wie Strohhalme.
»Weg von der Mauer«, brüllte Bohumir. Die Menschen stolperten in Panik durcheinander, behinderten sich gegenseitig.
Ganz langsam begann sich die Mauerkrone dem Hof zuzuneigen. Staub rieselte, Rebekka taumelte ein paar Schritte zurück, obwohl die tödliche Steinlawine sie nicht erreichen konnte. Die Mauer bekam eine Wölbung – Rebekka musste an Pferde mit Koliken denken, die sich aufblähten, bis sie aussahen wie Fässer – dann stürzte sie mit unglaublichem Getöse ein. Eine Staubwolke hüllte den Hof ein, Schreie gellten durch die Luft, ein Pferd brüllte vor Schmerz.
Rebekka zerrte Vila in den Stall zurück, machte sie fest und rannte wieder auf den Hof. Der Staub hatte sich bereits etwas gelegt, aber das Durcheinander war furchtbar. Wo war der Wagen, wo die beiden Pferde? Sie kämpfte sich durch. Wo war der Schuttberg, der von der Mauer übrig sein musste? Sie machte einen Schritt und blieb plötzlich stehen.
Sie hatte es mehr geahnt als gesehen. Vor ihr tat sich ein Loch auf. Das Wimmern eines Menschen drang daraus hervor, es musste der Wagenführer sein. Rebekka erkannte ein Pferd, das offensichtlich tot war, das andere hatte die Augen weit aufgerissen, die Zunge hing ihm aus dem Maul, ein Bein zuckte ständig.
»Die Pferde in die Ställe, sofort!« Von der Hardenburg bellte Befehle. »Seile! Leitern! Macht schon! Alle hierher. Holt den Mann da raus!«
Es dauerte nicht lange, da zogen sie den armen Kerl aus dem Loch. Er war inzwischen bewusstlos geworden, sein Gesicht war rot von Blut und kalkweiß zugleich. Aus dem Ärmel seines Hemdes ragte ein Knochen, sein rechter Fuß war unnatürlich verdreht.
Sie legten ihn auf ein Tuch. Bohumir beugte sich über ihn, drückte einen Finger an seinen Hals. Jemand reichte ihm eine Hühnerfeder, die er dem Verletzten vor den Mund hielt. Nichts. Der Mann atmete nicht mehr.
Von der Hardenburg kniete nieder, malte ein Kreuz auf die Stirn des Mannes, murmelte einige lateinische Worte. Dann winkte er. Vier Knechte brachten den Mann in die Kapelle, wo er drei Tage lang aufgebahrt werden würde, um sicherzugehen, dass er wirklich tot war.
Ohne Vorwarnung packte von der Hardenburg eins der Seile und stieg hinunter in den schwarzen Schlund. Steine rutschten nach, der Ordensritter fluchte, dann schwieg er.
Bohumir trat neben Rebekka. »Denkt Ihr, was ich denke?«
Sie nickte. Eine Erinnerung war ihr gekommen. An einen Satz, den sie im Tagebuch ihres Vaters gelesen hatte: Sie wird das Geheimnis schützen, unerkannt von unseren Feinden, eine Gleiche unter Gleichen, wie die Steine des Pflasters, über das wir achtlos schreiten. Steine. Pflaster. Warum hatte sie den Hinweis nicht erkannt?
Vielleicht, weil sie ihn nicht hatte sehen wollen . So wie sie das Wissen über ihre Familie mit niemandem hatte teilen wollen. Niemand wusste, dass sie einen Bruder hatte, der vielleicht noch lebte. Niemand, nicht einmal Engelbert.
»Man munkelt, der Papst habe in seinem Palast ein ähnliches Versteck«, sagte Bohumir und grinste schief. »Und zwar eins, das nur er und sein oberster Kämmerer kennen. Dort lagern allerdings keine geistigen, sondern ganz weltliche Schätze. Der Papst ist ein reicher Mann.«
»Alle Männer hierher, sofort!«, rief von der Hardenburg aus der Tiefe. »Wir müssen den Schutt wegräumen und das Loch abdecken.« Er hangelte sich an dem Seil nach oben, legte Rebekka und Bohumir jeweils eine Hand auf die Schulter. »Der Mann ist nicht umsonst gestorben. Kommt!«
Im Palas legte er seinen Umhang ab. In seinem Gürtel steckte eine Pergamentrolle. Rebekka spürte ihr Herz schneller schlagen.
Engelbert reichte ihr die Rolle. »Lest.«
Vorsichtig rollte Rebekka das Dokument auf, sie erkannte auf Anhieb die Handschrift ihres Vaters.
Amalie, geliebte Tochter! Wenn Gott es will, wirst du diejenige sein, die diese Zeilen liest. Wenn nicht, so ist die Christenheit vielleicht schon verloren.
Sicherlich hast du in Ehren gehalten, was wir dir vermacht haben. Und wenn Gott uns gnädig gesinnt ist, wirst du stark genug sein zu schützen, was wir nicht mehr schützen
Weitere Kostenlose Bücher