Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
waren. Der Riss war winzig. Rebekka betrachtete die Naht. Sie war kunstvoll ausgeführt, bestand aus nur drei kleinen gleichmäßigen Stichen. Rebekka blätterte weiter. Auch auf der nächsten Seite gab es eine Naht, die sogar nur aus einem Stich bestand. Anscheinend waren beide Pergamentbögen an derselben Stelle eingerissen. Wo war die nächste Nahtstelle? Einige Seiten weiter. Zwei Stiche. Und auch ihr folgte sofort eine zweite Nahtstelle. Rebekkas Herz hämmerte wild. Weiter. Auch die nächste Naht war nicht allein. Immer waren es zwei Seiten nacheinander, Pergamentbögen, die im Gegensatz zu den übrigen des Buches einen braungelben Stich hatten, ähnlich wie welkes Laub.
»Erst wenn beide Seiten zusammengefügt sind!«, sagte sie laut und hielt zwei Seiten übereinander mit ihren Nähten ins Licht. Die sich kreuzenden Stiche ergaben deutlich sichtbar eine Zahl: VII.
Von der Hardenburg riss die Augen auf. »Ihr erstaunt mich immer wieder, Amalie Severin!« Rasch schlug sie die Bibel an den ersten beiden braun gefärbten Seiten auf und legte sie übereinander: III. Sie nannte von der Hardenburg die Zahl und blätterte weiter. Der Ordensritter setzte nach und nach Punkte in die zweite Hälfte der Ziffernkolonne. Dann schrieben sie auch hier die entsprechenden Buchstaben darüber. Die Botschaft war entschlüsselt. Ungläubig starrten alle drei auf das Pergament. Rebekka fror plötzlich. Noch bevor Engelbert den Befehl gab, wusste sie, dass es nicht nach Prag gehen würde, sondern in eine völlig andere Richtung. Und an einen Ort, den Rebekka nie wieder hatte aufsuchen wollen.
***
Wie leicht und zerbrechlich Wenzel doch war. Karl wog seinen Sohn in einer Hand. Er war jetzt zwei Monate alt und immer noch am Leben. Ein gutes Zeichen.
Anna beobachtete Karl misstrauisch. »Seid achtsam! Lasst ihn nicht fallen!« Ihre Stimme wurde unruhig.
Karl verzieh Anna den ungebührlichen Ton, schließlich war Wenzel ihr erstes Kind und zugleich der Thronfolger. Sie liebte ihn mehr als ihr eigenes Leben, und so sollte es sein.
In der anderen Hand hielt Karl die Reichskrone. Alle Kleinodien waren nun in seinem Besitz, so wie im Vertrag von Bautzen festgelegt, und lagen bestens geschützt in der Schatzkammer der Prager Burg. Und heute endlich, am Palmsonntag, würde er sie dem Volk vorführen und so jedweden Zweifel an seiner rechtmäßigen Herrschaft über das Heilige Römische Reich aus dem Weg räumen.
Er hatte den gesamten Hochadel eingeladen und den Weg der Prozession sorgfältig geplant. Von Burg Vyšehrad aus durch die Neustadt, danach zum Altstädter Ring, wo eine Dankesmesse abgehalten werden würde, dann über die Brücke auf die Kleinseite für eine weitere kurze Andacht. Zuletzt würde es den Hradschin hinauf zur großen Messe im Veitsdom gehen.
Um zu zeigen, dass er auch als Besitzer der Kleinodien Recht und Gesetz durchsetzte, würde er morgen einen ganzen Tag lang öffentlich auf der Burg für die einfachen Leute Recht sprechen. Die Liste der Bittsteller war lang. Montfort hatte einige Fälle ausgesucht, die besonders gut geeignet waren, dem Volk zu demonstrieren, dass Karl IV. ein gottesfürchtiger und gerechter Herrscher war: Karl würde einem Bauern, der ohne Schuld verarmt war, seine Schulden erlassen und ihm ein Stück Land schenken; er würde einem Dorf einen Anger zusprechen, auf den ein Adliger Anspruch erhob, und er würde einige Patrizier in den Adelsstand erheben. Zwei Bürger würde er zu Geldstrafen verurteilen, weil sie Juden beschimpft hatten. Nicht zu vergessen die Bestätigung vieler Privilegien und Lehen für Klöster, Orden und Städte.
Wenzel zappelte, seine winzigen Händchen griffen nach der Krone.
Karl lachte. »Nicht so schnell, mein Sohn, du wirst sie früh genug in den Händen halten. Du brauchst keine Angst zu haben, ich könnte dich als Rivalen betrachten, so wie mein Vater mich. Ich werde dich nicht wegschicken, und ich werde immer für dich da sein.«
Er küsste Wenzel auf die Stirn und genoss den milchigen Geruch, den sein Sohn ausströmte.
Anna nahm ihn aus seinen Armen. »Genug jetzt, er braucht seine Ruhe. Meinetwegen dürft Ihr jetzt die Kleinodien umhertragen, ich werde unseren Sohn zu seiner Amme bringen.«
Karl verneigte sich. »Wie Ihr befehlt, meine Königin.«
Er verließ das Schlafgemach, Montfort wartete bereits, aber seine Miene entsprach nicht dem freudigen Anlass des heutigen Tages.
»Mein König!« Montfort drängte Karl in eine kleine abgelegene Kammer. »Es
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