Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
eintreten hören. Auch die Treppe, die hinunter in die Küche führte, gab keinerlei Ächzen von sich. Der Geruch von Zimt und Äpfeln stieg Rebekka in die Nase, und ihr Magen meldete sich mit einem lauten Knurren. Sie folgte dem Duft in die Küche.
Eine ältere magere Magd, die am Tisch Teig knetete, drehte sich zu Rebekka um und begann zu strahlen. »Da ist ja unser Küken! Und wie schön es aussieht. Meister Severin hat mir nie etwas von Euch erzählt, Amalie! Er ist so glücklich, dass Ihr gekommen seid, ihm Gesellschaft zu leisten. Er vermisst seine Töchter sehr.«
Rebekka wollte etwas erwidern, aber die Magd ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Kommt, setzt Euch, Ihr müsst ausgehungert sein. Wie wäre es mit einem Backapfel und Hirsebrei?«
Rebekka lief das Wasser im Mund zusammen. Sie war so hungrig, dass sie selbst in Milch gesottenes Fleisch gegessen hätte. Sie setzte sich an den schweren Eichentisch, und schon stand ein Teller vor ihr, beladen mit zwei dampfenden Äpfeln und einem Berg Hirsebrei. Nachdem sie den ersten Löffel gekostet hatte, gab es kein Halten mehr. Sie schaufelte sich den Brei in den Mund, zerteilte einen Apfel und schob sich ein Viertel davon hinterher.
»Wie heißt du?«, fragte sie die Magd mit vollem Mund.
»Alberta. Ich komme aus Köln.«
»Ist Köln so groß wie Prag?«
Alberta hob die Hände. »Noch größer! Aber hier geht es mir viel besser. In Köln musste ich im Judenviertel arbeiten. Das war unheimlich.«
Rebekka verschluckte sich, hustete und spuckte ein Stück Apfel auf den Teller. Alberta eilte herbei und klopfte ihr auf den Rücken. Rebekka versuchte, sich der Magd zu entziehen, aber Alberta ließ nicht von ihr ab, bis der Hustenreiz vorüber war.
»Was war denn so unheimlich?«, fragte Rebekka, als sie wieder Luft bekam.
»Na ja, die sagen halt, dass Jesus Christus, unser Herr, gar nicht der Sohn Gottes ist. Das muss man sich mal vorstellen! Und dann war alles so kompliziert, vor allem das Kochen. Wenn ich zum Beispiel mal vergessen habe, dass in einem Topf, in dem Milch war, kein Fleisch gekocht werden darf, musste ich eine Stunde lang warten, bis der Hausherr das Geschirr wieder gereinigt hatte. Und einen Rüffel bekam ich auch.«
»Das klingt wirklich seltsam«, sagte Rebekka mit einem gequälten Lächeln. »Gibt es in Prag auch Juden?«
»Aber ja! Die ganze Josefstadt ist voll von ihnen. Im Norden an der Moldaufurt. Der König hat sie unter seinen besonderen Schutz gestellt. Der Himmel weiß, warum er das tut. Dieses Gesindel macht nichts als Ärger. Und ihre Weiber sind am schlimmsten.«
Rebekka ließ den Löffel sinken. Ihre Hand zitterte.
Alberta beugte sich zu Rebekka und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe gestandene Männer gesehen, die verrückt geworden sind, weil ihnen eine Judenmetze den Kopf verdreht hat.«
Rebekka blieb die Grütze im Hals stecken. Wie konnte die dumme Gans nur so einen Unsinn erzählen! Es waren immer die Christen, die Mädchen aus dem Judenviertel nachstellten, sie verführten und dann im Stich ließen. Abrupt stand sie auf. Ihr war der Appetit vergangen.
»Ich muss gehen«, presste sie mühsam hervor. »Ich habe einiges zu besorgen. Danke für den Brei und die Äpfel.«
S EPTEMBER 1345/T ISCHRI 5106
Als Rebekka die Gasse entlangrannte, spürte sie die ersten Regentropfen auf ihrem Gesicht. Sie presste das Buch fest an sich, damit es nicht nass wurde. Die Verse des Sängers Walther von der Vogelweide hatten sie mehr berührt als alles, was sie bisher gelesen hatte. Natürlich waren die heiligen Worte der Thora gewaltiger und mächtiger, aber das Buch, das Johann ihr geborgt hatte, hatte fremde, neue Gefühle in ihr geweckt.
Sie hatte Johann lange nicht gesehen, den ganzen Sommer nicht, denn sie hatte keine Gelegenheit gefunden, sich ihren häuslichen Pflichten zu entziehen. Je älter sie wurde, desto mehr musste sie ihrer Mutter zur Hand gehen, aber auch ihrem Vater, für den sie medizinische Geräte putzen, Rezepte beim Apotheker abholen und Kräutersud brauen musste. Hinzu kamen die Lehrstunden beim Rabbi, die immer schwieriger wurden. Inzwischen hatte er sie nach der hebräischen auch die lateinische Sprache gelehrt, die sie nun ebenso fließend beherrschte.
Kurz nach dem Pessachfest hatte sie zum ersten Mal geblutet, und danach war sie mit ihrer Mutter in der Mikwe gewesen, wo sie feierlich in dem kalten Wasser untergetaucht war. Sie war nun eine Frau und wurde noch strenger von ihren Eltern überwacht als
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