Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
über alle legten, fröhlich und aufgeregt sah.
»Lieber Freund, dies ist einer der klassischen Fälle, in denen wir behaupten dürfen, dass nicht jedes Unglück Schaden anrichtet: die Evakuierung bedeutet eine große Chance für uns«, sagte der Doktor feierlich, als teilte er ihm eine bedeutende und überdies erfreuliche Wahrheit mit.
Doch seine Worte verwirrten Beniamino nur noch mehr. Welche Chancen konnten sich dieser Karawane aus Unglücklichen durch ihren Auszug aufs Land denn schon bieten? Das verstand er wahrhaftig nicht. Gewiss, sie würden der Gefahr der Bombenangriffe entgehen, der Erschütterung, die jede Explosion in ihrem ruhigen Alltag anrichtete, aber andere Vorteile sah er nicht. Vielmehr beunruhigte ihn die Vorstellung, das Irrenhaus räumen, es des Lebens in seinem Inneren berauben zu müssen und gleichzeitig seine armen Bewohner zu entwurzeln, um sie an unbekannte Orte zu bringen, mit denen diese umhertreibenden Wracks erst sehr langsam vertraut werden würden.
Außerdem war er ernsthaft um Mara und Elemira besorgt: Er würde eine neue Unterkunft für sie suchen, sie bei einem Freund oder Verwandten unterbringen müssen. Ganz zu schweigen von der wahrscheinlichen Trennung von Marcella.
Von diesen Gedanken geplagt, beschloss Beniamino, sich dem Menschen anzuvertrauen, der ihm gegenüberstand, teils um sich selbst zu trösten, teils um Rattazzis Begeisterung, die ihn, offen gestanden, ärgerte, ein wenig zu dämpfen.
»Ich verstehe«, sagte dieser, nachdem er aufmerksam zugehört hatte. »Glaub nicht, ich hätte nicht in Betracht gezogen, was du mir eben erzählt hast, und denk nicht, meine Aufregung sei bloße Leichtfertigkeit. Es gibt sehr viel Arbeit und viele Probleme, die jeder von uns wird bewältigen müssen.«
Dann erhob er sich, ging zum Fenster und blickte eine Weile auf den Hof, wo die Irren ihre Zeit verbrauchten. Schließlich wandte er sich zu dem Jungen um.
»Beniamino«, sagte er in einem ungewohnt vertraulichen Ton, fast wie ein Vater, »ich verstehe auch, dass du dich eng mit diesem Ort verbunden fühlst, der von Geburt an deine Heimat war. Zwischen diesen Räumen und deiner Mutter gibt es nur einen Maschendraht und eine Mauer aus Rosen, und hier, ausgerechnet an diesem Ort des Leidens, hast du die Liebe gefunden, die an deiner Seite ist, die durch die Flure läuft, in der Küche arbeitet. Aber du bist eine empfindsame Seele, neugierig und achtsam. Und du hast ein Talent: Du kannst zuhören, mein kleiner Beniamino. Du hörst den wirren Reden Cavanis zu, du kennst Foscos Abgründe. Und du spürst ihre Angst, du fühlst, wie sie sich abplagen, weil sie keine Worte finden, weil sie hilflos in den Wellen treiben, von Kräften geschüttelt, die keiner kontrollieren kann. Die Qual, hier drinnen allein gelassen zu sein, der Zeit ausgeliefert, den Regeln, den Schwestern und den Aufsehern. Und der Wissenschaft.«
Rattazzis Stimme wurde lauter, fast zu einem Schrei, er konnte seine Erregung nur ein wenig dämpfen, indem er sich über Beniamino beugte und ihm etwas anvertraute.
»Weißt du«, sagte er, versonnen lächelnd, »ich habe immer gedacht, ein Arzt müsse dem Kranken helfen, sich von seinem Leiden zu befreien, darum habe ich mich, schon als ich anfing zu studieren, heimlich immer für eine Art Retter gehalten. Doch was habe ich dem, der mich um Hilfe bat, anbieten können? Sieh her«, und mit diesen Worten schob er die Gardine vor dem Fenster beiseite, »einen von Mauern umgebenen Hof, wo er im Kreis gehen kann, ein paar Bänke, wo er sich neben seine eigene Verzweiflung setzen kann, ein Dutzend robuste Aufseher, die nur dazu taugen, die Riemen fester zu ziehen, wenn das Feuer zu stark brennt, fromme, barmherzige Schwestern und eine Schar Kollegen, die vor allem darauf bedacht sind, ihr Hemd blütenweiß zu halten und ihrer Karriere mit einer Reihe teuflischer Einfälle Glanz zu verleihen.«
Rattazzi kam auf Beniamino zu, sein Gesicht war stark gerötet, und während er ihn an den Schultern festhielt, sprach er mit noch größerer Eindringlichkeit weiter.
»Die Elektrokonvulsionstherapie von Professor Cerletti wird früher oder später auch bei uns ankommen, und sie wird Stromstöße durch den Kopf von Fosco oder Bardi schicken, in der irrigen Überzeugung, ihnen damit die Schizophrenie aus dem Hirn zu reißen. Ebenso die Insulinschocktherapie, die sich inzwischen großer Beliebtheit erfreut und die Unglückseligen, die wir mit dem Brandmal des Wahnsinns abstempeln, in das
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