Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
also beschloss er, diese Qual sofort zu beseitigen, nicht nur weil sie ihm lästig war, sondern auch, um den begangenen Fehler wiedergutzumachen.
Er wusste, dass Marcella die Tochter eines Müllers war und mit dem Fahrrad von der Mühle weit hinter den Bahngleisen, wo sie mit ihrer Familie wohnte, zur Arbeit fuhr. Also beeilte er sich auf dem Nachhauseweg, um mit ihr sprechen zu können. Er sah sie, als sie schon die abschüssige Straße zum Bahnhof hinunterfuhr, rief ihren Namen und beeilte sich, um sie einzuholen.
Die steil abfallende Straße, der glatte Porphyr, sein lahmes Bein, vielleicht aber auch nur eine Laune des Schicksals wollten, dass dieser Lauf wieder mit einem Sturz endete. Das Mädchen sah Beniamino neben seinem Fahrrad am Boden liegen und unterdrückte ihre Befürchtungen, die am Morgen bei ihm jene Reaktion ausgelöst hatten. Jedenfalls gewann der Groll sofort die Oberhand über jede Angst und verwandelte sich in eine spitze Bemerkung: »Ich sehe, dass Sie nicht nur ein Rüpel sind, sondern auch ein Rüpel, der sich nicht auf den Beinen halten kann.«
Beniamino, auf der Straße sitzend, hob die Arme zum Zeichen seiner Ergebung. »Ich wollte mich gerade für vorhin entschuldigen. Ich bin wirklich ein Flegel gewesen. Hoffentlich können Sie mir verzeihen.«
Zur Antwort erhielt er nur zusammengepresste Lippen und eine finstere Miene. Der Blick des Mädchens war streng, zwei blaue Augen bohrten sich in Beniaminos Augen wie zwei Messerklingen, drangen in ihn ein und fuhren ihm schmerzhaft in die Magengegend, so dass die Last der Reue, die er in den vergangenen Stunden mit sich herumgeschleppt hatte, ihn durchströmte wie eine bleierne Flüssigkeit, die ihm den Atem nahm. Beniamino konnte nicht sprechen, ein Gefühl, so stark, wie er noch keines verspürt hatte, schnürte ihm die Luft ab. Auf dem Straßenpflaster fühlte er sich wie ein Ertrinkender, und dennoch wäre er gerne noch lang in diesem Meer den Wellen ausgeliefert geblieben.
Es war Marcella, die ihn herauszog. Vom Fahrrad aus betrachtete sie den Jungen zu ihren Füßen, und ihr Blick war noch immer hart vor Zorn, dem Zorn über seine ungehobelte Antwort, über die Demütigung, die er ihr auf dem Flur zugefügt hatte, als er sie mit der Unordnung allein ließ, die beseitigt werden musste, und mit der Standpauke der Schwester Oberin, die sie einstecken musste. Ihr erster Impuls war, ihn einfach sitzen zu lassen, diesen Hampelmann, sollte er sich doch mit der Stille vergnügen, in der sie ihn zurücklassen würde, von wegen Entschuldigungen!
Doch dann sah sie ihn dort unten sitzen, die Arme ausgebreitet, das Gesicht puterrot. Einen Moment lang schien ihr, er könnte kaum mehr atmen und ein Zittern liefe über seinen halbgeöffneten Mund, als müsste er nach Luft ringen. Plötzlich sah sie, als flöge sie hoch oben am Himmel wie einer der Vögel, die Fosco glücklich machten, sich selbst und Beniamino auf der Straße und das Irrenhaus mit dem Hof, wo die Leben der verlorenen Seelen langsam verfaulten, mitten in der kleinen Stadt, um die sich die Welt drehte, und aus dieser Perspektive fühlte sie sich wie ein winziger, unbedeutender Punkt, verhärtet von einem Groll, den sie nicht mehr verspüren wollte.
»Wenigstens müssen diesmal nicht Dutzende Brötchen aufgehoben werden«, sagte sie, während sie Beniamino die Hand reichte, und er ließ sich helfen, während er versuchte, die Erregung hinunterzuschlucken, die ihm das Sprechen verwehrte.
»Wenn Sie erlauben, möchte ich Sie ein Stück Wegs begleiten«, stieß er mühsam hervor.
»Gerne, wenn Sie mir versprechen, nicht noch einmal hinzufallen«, antwortete Marcella lächelnd und schlug den Weg zur Mühle ein, zusammen mit Beniamino und der Liebe, die beide schon am Arm hielt.
Tatsächlich stand Beniamino am nächsten Morgen früher auf als gewöhnlich, ging zum Bahnhof hinunter und wartete auf Marcellas Fahrrad, und das tat er von nun an jeden Tag, bis der Krieg die beiden zwang, ihre Gewohnheiten zu ändern.
Zu den Gewohnheiten ihrer Liebe gehörte, außer den Küssen und Liebkosungen, das starke Mitgefühl, das beide mit dem Leiden an ihrem Arbeitsplatz empfanden und miteinander teilten. Marcella verstörte das abstoßende Gesicht des Wahnsinns, und auch wenn ihre Tätigkeit sich meist auf die Küchenräume beschränkte, rührte sie das Wissen um die Qualen in ihrer Umgebung. Vielleicht war diese Sensibilität einer der Gründe, warum sie sich in Beniamino verliebte, denn sie
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