Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
spürte und sah in ihm die gleiche Betroffenheit, und sie ahnte, dass er die Gespenster in ihren langen Hemden darum so zartfühlend und respektvoll behandelte, ohne sich durch Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Grobheit, vor ihnen zu schützen wie die meisten ihrer Kollegen.
In ihren Gesprächen gab Marcella ihm, wie Liebende es zu tun pflegen, einen zärtlichen Spitznamen, sie nannte ihn »Dottore«, um ihm den Titel zu verleihen, den er ihrer Meinung nach ohnehin besaß, weil er seine Arbeit so hingebungsvoll tat, weil er in das Dunkel eintreten wollte, das sie ängstigte und damit auch ihre eigene Verstörung ein wenig linderte.
Doch sie war nicht die erste, die Beniamino »Dottore« nannte, sondern Moraschi, ein Faktotum des Irrenhauses. Es war an einem Nachmittag gewesen, an dem die Dezemberkälte zubiss wie ein wildes Tier. Moraschi hatte seit Stunden Brennholz und Kohle für die Öfen abgeladen, war die Treppen zum Keller hinauf- und hinabgelaufen, und als er zum letztenmal schweißgebadet und erschöpft nach oben gestiegen war, hatte er auf dem Flur Beniamino angetroffen, Arm in Arm mit Professor Cavani, dem Alten lauschend, der Homer rezitierte.
Die Bürde seiner harten Arbeit lastete schwerer auf Moraschi als seine Jahre. Außer Atem vom Treppensteigen, verfluchte er, vor sich hin brummend, alle Heiligen, und als er plötzlich das friedliche Gesicht eines jungen Mannes vor sich sah, der durch die Flure spazierte, verfinsterte sich sein gewöhnlich heiteres Gemüt. Eine Spur Neid stieg ihm vom Magen bis zum Mund, wie wenn man nach einer schlecht verdauten Speise aufstößt. Als Freund von Ignazio kannte Moraschi die Umstände, die Beniamino zu dieser Stelle verholfen hatten, und genausogut wusste er über die Sorgen Bescheid, die ihm der fehlende Studienabschluss bereitete, der Titel, auf den die ganze Familie so großen Wert legte, als wäre er eine ungeheure Ehre. Moraschi hatte aufrichtig Mitleid empfunden, als er mitbekommen hatte, wie dem Jungen erst der Gang ruiniert und er dann durch den plötzlichen Tod des Vaters auf eine so harte Probe gestellt wurde. Doch noch bevor die Vernunft einschreiten und spontane Reaktionen bremsen konnte, hatte er jenes Wort schon ausgesprochen, in der Gewissheit, einen freiliegenden Nerv zu treffen, Beniamino zu verletzen und sich so zu rächen oder wenigstens für die schmutzige Trägerarbeit zu entschädigen, zu der seine Anstellung ihn zwang.
»Guten Abend, Dottore«, sagte er mit einer leichten Verbeugung, die Augen bereits gesenkt, um die Scham zu verbergen, die er wegen dieser hämischen Äußerung sofort empfand.
Beniamino blieb stehen: Er hatte Moraschis Anwesenheit nicht gleich bemerkt, und dieser ein wenig spöttische Gruß traf ihn. Denn er kam von einer vertrauten Stimme, einem Gesicht, das er oft in Gesellschaft seines Vaters hatte lachen und angeregt plaudern sehen, von dem er viele witzige Bemerkungen und bissige Kommentare über das Leben und die Welt gehört hatte.
Es war nur ein kurzer Augenblick, aber lang genug für Beniaminos Entscheidung, den Gruß als eine der häufigen ironischen Bemerkungen dieses Mannes aufzufassen und ihn entsprechend zu erwidern. Also dankte er lächelnd mit einer eleganten Handbewegung, wie um sich für eine übertriebene, eindeutig unaufrichtige Ehrerbietung erkenntlich zu zeigen.
Was wie eine Absolution seines Ausrutschers erscheinen mochte, minderte Moraschis Verlegenheit, verschaffte ihm Erleichterung vom Schuldgefühl für die begangene Unhöflichkeit und machte ihn so unbefangen, dass er von diesem Tag an, wie bei einem Spaß zwischen Freunden, den Jungen immer mit dem Titel »Dottore« grüßte, so dass dieses private, aus einer harmlosen Boshaftigkeit entstandene Spielchen, wie es in kleinen Gemeinschaften häufig geschieht, zu dem Spitznamen wurde, mit dem die Kollegen, die Schwestern und sogar die Patienten Beniamino fortan riefen.
Und da Worte fließen und ihr Lauf so schwer einzudämmen ist wie der des Wassers, glitt dieser Spitzname schon bald unter der Tür des Irrenhauses hindurch, überwand seine Umfriedungsmauern und machte seine Runde durch die Straßen und Plätze, um im Lauf der Jahre mit Beniaminos Namen verbunden zu bleiben und ihm so durch eine kleine Boshaftigkeit zurückzugeben, was die Bosheit des Schicksals ihm durch Castelluccis Fußtritt genommen hatte.
Größere Genugtuung noch als Beniamino empfand freilich Aida, die diesen Titel mit unverhohlener Freude akzeptierte und ihn von jedem
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