Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
boshaften oder satirischen Bezug reinigte. Und als der Nebel der Jahre alle Dinge für sie noch verschwommener und unklarer machte, blieb das Wort »Dottore« wie ein klar erkennbarer Punkt am Horizont stehen, strahlend, glänzend, ein Leuchtturm, der ihr Lächeln bis zu dem Tag erleuchtete, an dem der Tod sie mit sich nahm, weil sie glücklich war, mit ihrem mühevollen Leben dazu beigetragen zu haben, dass der Enkel einen so ruhmvollen Titel erwerben konnte.
S EIT EINIGER Z EIT hatte das Kriegsgeschehen eine entscheidende Wende genommen. Nach dem Frohlocken in den ersten Monaten über die ersten Siege, die sich allerdings eher der Stärke des deutschen Verbündeten als den Fähigkeiten eines Heeres aus Pappkameraden verdankten, war der Vormarsch zunächst zum Stillstand gekommen und hatte dann unter den Folgen eines Gegenangriffs gelitten, der sich nicht mehr nur in den Schlachten an der Front zeigte, sondern auch als spürbare Einschränkung der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren, vor allem aber dadurch, dass nun der Tod vom Himmel kam.
Oft erst angekündigt, wenn sie den Menschen schon auf die Köpfe fielen, zerstörten die von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben Häuser und Fabriken, Plätze, Kirchen und Straßen und töteten jene Unglücklichen, die keinen Schutz vor den herabregnenden Sprengkörpern hatten finden können.
Auch das Irrenhaus wurde nicht verschont: An einem heiteren Morgen, als seine Insassen schon im Hof waren, um ihre Gedanken spazierenzuführen, erfüllte plötzlich ein fernes Dröhnen die Luft. Dann erschien am Himmel über der Irrenanstalt ein Schwarm aus stählernen Vögeln, und viele Patienten begannen sofort mit dem gewohnten Ritual des Rufens und Winkens. Fosco setzte genau in dem Moment zu seinem entfesselten Tanz an, als die fliegenden Festungen ihre für den Bahnhof und die danebenliegende Motorenfabrik bestimmten Bomben abwarfen.
Beniamino erkannte sofort, was geschah, und zum erstenmal eilte er seinen Kollegen zu Hilfe, um die Herde der Irren in Sicherheit zu bringen.
Die mit großer Präzision abgeworfenen Bomben trafen ihre Ziele, doch zwei nahmen einen anderen Weg: eine zerstörte die alte Loggia an der Piazza, die andere schlug direkt vor der Irrenanstalt ein. Ein entsetzlicher Knall brachte die Luft zum Erzittern. Die Fensterscheiben zerbrachen, und viele der Patienten und Mitarbeiter wurden von dieser Garbe aus Glassplittern und glühendheißer Luft getroffen. Es gab zwar zum Glück keine Toten, doch zahlreiche Verletzte. Der erlittene Schock brachte die Gewohnheiten der Irren vollkommen durcheinander. Es war, als wäre mit der Gewalt der Explosion eine unheimliche Energie durch die Mauern des Irrenhauses gedrungen, die die Qual dieser armen Seelen und die Erregungszustände, unter denen viele von ihnen litten, verschlimmerte. Die meisten waren völlig orientierungslos, weil sie der vom Himmel kommenden Gewalt nichts entgegensetzen konnten. Von dieser Katastrophe blieben nur diejenigen verschont, die sich schon seit geraumer Zeit jedem Kontakt mit der Welt entfremdet hatten, deren Augen nichts sahen, deren Ohren nichts hörten, leere Hüllen eines Lebens, das sie nicht mehr bewusst besaßen.
Von diesem Tag an erschien das Irrenhaus wie ein verletzter Körper, die Risse in seinen Mauern waren wie tiefe Falten in der Haut, die zerstörten Fenster wie fehlende oder kariöse Zähne und seine Eingeweide, die verlorenen Seelen der Verrückten, wurden noch wirrer und verschlungener.
Angesichts der zunehmend schwerer zu kontrollierenden Lage beschlossen die versammelten Ärzte, schnellstens für die Evakuierung der Patienten zu sorgen und sie aufs Land zu bringen, an Orte, die mehr Ruhe boten. Mit sorgenvollem Blick und in ernstem Ton unterrichtete Professor Tiziani das Personal von dieser Entscheidung wie ein General, der seinen Truppen den traurigen Entschluss zum Rückzug verkündet. Natürlich war es ein Grund zur Erleichterung, dass man sich von den Zielen der Bombenangriffe entfernen würde, doch trotz dieser Vorstellung erschien es allen wie Feigheit, das mitten in der Stadt gelegene alte Gebäude aus Ziegelsteinen im Stich zu lassen, als würden sie einen versehrten Verwandten, dessen Wohl und Wehe sie lange in großer Vertrautheit geteilt hatten, nun seinem Schicksal überlassen.
Darum wunderte sich Beniamino, als er, von Doktor Rattazzi in sein Arbeitszimmer gerufen, diesen in einem Moment, in dem die Vorbereitungen für die Räumung einen Schleier des Trübsinns
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