Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Vorzimmer des Todes stoßen kann.«
Beniamino war bestürzt über diesen Wortschwall. Doch Rattazzis Ausbruch ging weiter, zunehmend drängender.
»Zugegeben, ihr Zweck ist die Heilung von der Krankheit, also haben diese Methoden ein Ethos. Doch den Schreien des Leidens wird mit Stille begegnet, mit dem Schlaf desjenigen, der den Mund zu stark verzieht oder den Frieden unserer Familien stört. Das hier ist kein Krankenhaus«, fuhr er fort, »es ist ein Gefängnis, und was wir hier tun, Beniamino, ist nicht behandeln, sondern ruhigstellen, wir streichen eine Schicht Verputz über jede Abnormität, um die Risse der Menschheit zu verstecken, um unsichtbar zu machen, was verstört. Ein schwerer Schleier, der alles verbergen soll, wie der bleierne Schleier, den unser tüchtiger Duce über das Gewissen unseres Landes gebreitet hat.«
Es klang wie eine Schlussfolgerung, doch Rattazzi war noch nicht fertig. Er drückte seine Hände fester auf Beniaminos Schultern und fuhr fort: »Ich bin müde, mein Freund. Ich bin es müde, meine Mittelmäßigkeit zu akzeptieren, und enttäuscht, weil es mir nicht gelungen ist, einen neuen Weg zu finden, mehr zu tun als zuzusehen, Aufzeichnungen zu machen, unentwegt zu suchen, ohne hier drinnen etwas zu finden, was den Verzweifelten nützt, denen ich helfen möchte. Ich habe niemanden befreit. Im Gegenteil«, schloss er bitter, »ich bin schließlich selbst wie die geworden, die ich retten wollte, eingeschlossen zwischen diesen Mauern, in den Sälen, gequält von dem Gestank von Urin und den Regeln der frommen Schwestern. Hier drinnen die Macht des berühmten Tiziani und draußen der Krieg, den Mussolini wollte.«
Beniamino spürte das Zittern von Rattazzis Händen auf seinen Schultern, er hörte seine vor Erregung brechende Stimme und ahnte, dass dieser Mann sich mit schonungsloser Aufrichtigkeit an ihn wandte. Vielleicht begriff er die Bedeutung des Scheiterns, das Rattazzi ihm eingestand, nicht mit dem Verstand, doch ein Reigen von Bildern zog vor seinen Augen vorüber, und er ließ sich von ihnen forttragen wie von einer Welle, verlor sich in Ignazios Blick, den der Tod versteinert hatte, und in Marcellas Augen voller Licht, in den gestammelten Worten von Professor Cavani und in der Weite seiner Himmel. Er sah die Mauern des Hofes, roch den Geruch des Schweißes und der Lederriemen und las das an die Wand im Flur geschriebene Leben von Ubaldo Mei. Ihm stieg der Duft der Rosen in die Nase, während er Fosco beobachtete, der einem Vogelschwarm hinterherlief, die Arme ausgebreitet, und sich in die Lüfte erhob, so dass er selbst nun durch Foscos Augen aus der Höhe des Himmels die Irrenanstalt und ihre hohen Mauern sah, umringt von der Stadt, in der die Menschen hin und her liefen, jeder auf seinem eigenen Weg, jeder seiner eigenen Beschäftigung nachgehend, überzeugt, Herr über das eigene Leben zu sein, ohne zu sehen, was Beniamino jetzt mit den Augen eines Vogels endlich erkennen konnte: den langen Mauerring aus Ziegelsteinen, der auch die Stadt umgab, der sie so umschloss, wie er das Irrenhaus umschloss und festhielt, in einem eisernen Griff.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Rattazzi: »Vielleicht kann Mussolinis Krieg aber auch zu etwas nützen, vielleicht kann er endlich diesen Mauerring niederreißen und unseren Irren eine Chance eröffnen. Wir müssen die Anstalt evakuieren, und damit, mein Freund, ist uns das Schicksal zu Hilfe gekommen, so dass wir ihnen etwas bieten können, was humaner ist als dieses alte Gefängnis.«
Darauf löste er sich von Beniamino, ging zum Schreibtisch, nahm ein Bündel Papiere und reichte sie ihm.
»Wir haben einen Bauernhof in der Gegend von Pianoro gefunden, hinter dem See in der Schlucht. Es gibt Zimmer für etwa ein Dutzend Personen, es gibt eine Heizung und sogar Elektrizität. Ich habe bereits Tizianis Einwilligung, sieben Patienten dorthin zu bringen, dazu kommen zwei Aufseher und natürlich ich selbst. Marzi wird mit seinem Laster hin und wieder in die Stadt fahren, um uns mit dem Nötigsten zu versorgen. Ich habe vorgeschlagen, dich, Bruni und Marcella für die Küche mitzunehmen, aber ich glaube, auch für Elemira und Mara lässt sich etwas machen. Glaub mir, Beniamino«, und wieder ging er auf ihn zu, »aus der Anstalt herauszukommen kann allen nur guttun, uns ebenso wie unseren lieben Närrchen. In der Ruhe von Pianoro können wir neu anfangen, weit weg von diesen Mauern und vom Geruch des Wahnsinns, den sie mittlerweile
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