Die Rettung Raphael Santiagos: Die Chroniken des Magnus Bane (6) (German Edition)
antwortete Raphael. »Ich hatte schon befürchtet, alle Hexenmeister seien völlig nutzlos.«
Kurz nach Ragnors Abreise versuchte Magnus, sich in Erinnerung zu rufen, wann Raphael das letzte Mal Blut getrunken hatte. Selbst zu Zeiten, als er Camille noch geliebt hatte, hatte er es immer vermieden, darüber nachzudenken, wie sie wohl an ihre Nahrung kam. Außerdem wollte er nicht, dass Raphael noch einmal jemanden tötete. Aber ihm fiel auf, wie Raphaels Gesichtsfarbe sich änderte und sein Mund immer verkniffener wurde. Nachdem sie schon so weit gekommen waren, würde er nicht zulassen, dass Raphael aus lauter Verzweiflung vertrocknete.
»Raphael, ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll, aber: Isst du auch genug?«, fragte Magnus. »Bis vor Kurzem warst du immerhin noch ein Jugendlicher in der Wachstumsphase.«
»El hambre agudiza el ingenio«, antwortete Raphael.
Hunger schärft den Verstand.
»Netter Spruch«, bemerkte Magnus. »Nur haben Sprichwörter es meist an sich, dass sie wahnsinnig schlau klingen, in Wahrheit aber nicht das Geringste aussagen.«
»Glaubst du ernsthaft, ich würde es mir erlauben, mich in der Nähe meiner Mutter – und meiner kleinen Brüder! – aufzuhalten, solange ich nicht zweifelsfrei weiß, dass ich mich unter Kontrolle habe?«, erwiderte Raphael. »Ich will absolut sicher sein, dass ich mich selbst dann, wenn ich mit einem von ihnen auf engstem Raum zusammensitze und tagelang kein Blut getrunken habe, im Griff habe.«
In dieser Nacht tötete Raphael vor Magnus’ Augen beinahe wieder einen Mann. Er hatte bewiesen, wozu er imstande war.
Magnus brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass Raphael sich aus Mitleid oder Barmherzigkeit oder sonst einer Schwäche für die Menschen zu Tode hungerte. Raphael betrachtete sich selbst nicht mehr als menschlich und glaubte, jede Sünde dieser Welt begehen zu können, weil er ohnehin schon verdammt war. Er hatte nur deshalb darauf verzichtet, Blut zu trinken, um sich selbst zu beweisen, dass er es konnte. Es ging allein darum, sich so lange in Selbstdisziplin zu üben, bis er erreichte, was er sich vorgenommen hatte.
Am nächsten Abend rannte Raphael über geweihten Grund und trank dann seelenruhig Blut von einem auf der Straße schlafenden Obdachlosen. Trotz des Heilzaubers, den Magnus schnell sprach, würde der Mann möglicherweise nie wieder erwachen. Während sie nebeneinander durch die Nacht spazierten, rechnete Raphael laut vor, wie lange er noch brauchen würde, bis er seines Erachtens stark genug war.
»Ich finde, du bist schon ziemlich stark«, bemerkte Magnus. »Und du verfügst über eine gewaltige Selbstdisziplin. Sieh dir nur an, wie meisterlich du sämtliche Heldenverehrung unterdrückst, die du mir so gerne entgegenbringen würdest.«
»Allein zu versuchen, dir nicht ins Gesicht zu lachen, ist schon eine gute Übung«, antwortete Raphael düster. »Insofern hast du durchaus recht.«
Plötzlich erstarrte Raphael. Als Magnus fragen wollte, was los war, brachte Raphael ihn energisch zum Schweigen. Magnus schaute erst in Raphaels dunkle Augen und folgte dann seinem Blick. Er konnte zwar nicht erkennen, was der Vampir entdeckt hatte, aber er ahnte, dass es sicher nicht schadete, ihm zu folgen, als dieser sich in Bewegung setzte.
Hinter einem leer stehenden Fastfood-Restaurant erstreckte sich eine dunkle Gasse. In den Schatten raschelte etwas. Magnus hielt es zuerst für das Geräusch von Ratten im Müll, aber als sie näher herankamen, konnte auch er hören, was Raphaels Aufmerksamkeit geweckt hatte: ein Kichern, dann ein Saugen und ein schmerzvolles Wimmern.
Er war sich nicht sicher, was Raphael im Sinn hatte, aber er würde ihn in dieser Situation sicher nicht alleinlassen. Magnus schnippte mit den Fingern und in seiner Hand erstrahlte ein gleißendes Licht, das die gesamte Gasse erhellte, einschließlich der Gesichter der vier Vampire und ihres Opfers.
»Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte Raphael forsch.
»Wonach sieht es denn aus?«, gab das einzige Mädchen in der Gruppe zurück. Magnus erkannte in ihr die junge Vampirin, die sich ihm im Hotel Dumont tapfer in den Weg gestellt hatte. »Wir trinken Blut. Bist du neu, oder was?«
»Ach, das war es also«, erwiderte Raphael mit gespielter Überraschung. »Tut mir echt leid. Muss mir wohl entgangen sein, weil ich so damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, wie unfassbar dumm ihr doch alle seid.«
»Dumm?«, wiederholte das Mädchen. »Willst
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