Die Rettung Raphael Santiagos: Die Chroniken des Magnus Bane (6) (German Edition)
Ziel hast. Etwas, wofür es sich zu leben lohnt, auch wenn du nicht glaubst, dass du noch lebst.«
Eine kurze Pause entstand.
»Na, wunderbar«, sagte Raphael schließlich. »Ich wäre nämlich so oder so gegangen. Brooklyn hängt mir zum Hals raus.«
»Du bist eine unerträgliche Rotzgöre«, ließ Magnus ihn wissen. Daraufhin schenkte ihm Raphael ein seltenes, überraschend liebenswertes Lächeln.
Das Lächeln verschwand jedoch schnell, als sie sich seinem alten Viertel näherten. Magnus merkte, wie Raphael versuchte, seine Panik zu unterdrücken. Ihm fielen die Gesichter seines Stiefvaters und seiner Mutter wieder ein. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich die eigene Familie von einem abwandte.
Hätte er wählen können, hätte er sich lieber die Sonne wegnehmen lassen, wie es Raphael bereits passiert war, als die Liebe. Er ertappte sich dabei, dass er betete, was er seit Jahren kaum noch getan hatte. Er betete, wie es ihm der Mann, der ihn großgezogen hatte, beigebracht hatte. Er betete, dass Raphael nicht das grausame Schicksal widerfuhr, beides zu verlieren.
Sie näherten sich dem Haus. Eine kurze Treppe führte hinauf zur Tür, die mit einem verwitterten grünen Gitter gesichert war. Raphael starrte mit einer Mischung aus Sehnsucht und Angst hinauf – wie ein Sünder zur Himmelspforte.
Also übernahm es Magnus, anzuklopfen und darauf zu warten, dass die Tür aufging.
Als Guadalupe öffnete und ihren Sohn sah, hatte das Beten ein Ende.
In dem Blick, mit dem sie Raphael betrachtete, lag ihr ganzes Herz. Sie rührte sich nicht, fiel ihm nicht um den Hals. Sie stand einfach nur da und betrachtete sein Engelsgesicht, seine dunklen Locken, seine schmale Gestalt und seine geröteten Wangen – Raphael hatte sich im Vorfeld noch schnell mit frischem Blut versorgt, um möglichst lebendig auszusehen – und ganz besonders die goldene Kette um seinen Hals. Magnus konnte ihr ansehen, wie sie sich fragte: War das ihr Kreuz? War das das Kreuz, das sie ihm geschenkt hatte, um ihn zu beschützen?
Raphaels Augen glänzten. Erschrocken stellte Magnus fest, dass sie bei all ihren Planungen eines übersehen hatten. Eine einzige Sache hatten sie nicht geübt – Raphael vom Weinen abzuhalten. Wenn er vor seiner Mutter in Tränen ausbrach, war alles verloren. Vampire weinten Blut.
Hastig plapperte Magnus drauflos.
»Sie haben mich gebeten, ihn zu suchen, und das habe ich getan«, sagte er. »Aber als ich ihn fand, war er bereits so gut wie tot. Ich musste ihm daher etwas von meinen Kräften geben. Dadurch ist er jetzt wie ich.« Magnus suchte Guadalupes Blick, was nicht ganz einfach war, weil ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Sohn galt. »Ein Magier«, sagte er, wie sie es einst zu ihm gesagt hatte. »Ein unsterblicher Zauberer.«
Sie hielt Vampire für Monster, zu Magnus aber war sie mit ihrem Anliegen gekommen. Einem Hexenmeister konnte sie vertrauen. Vielleicht konnte sie sogar glauben, dass ein Hexenmeister nicht verdammt war.
Guadalupe stand stocksteif da, aber sie nickte kaum merklich. Sie verstand, was er sagte, und sie wollte ihm glauben. Sie wollte ihnen beiden so gerne glauben, dass sie es offenbar noch nicht ganz über sich brachte, ihnen zu vertrauen.
Sie sah deutlich älter aus als noch vor einigen Monaten. Das Verschwinden ihres Sohnes hatte erkennbar an ihr gezehrt. Trotz allem hatte sie nichts von ihrer grimmigen Entschlossenheit eingebüßt. Sie stand da und blockierte mit einem Arm die Tür, sodass die Kinder, die um sie herum nach draußen lugten, hinter ihr in Sicherheit waren.
Aber sie schloss die Tür nicht. Sie schenkte Raphael ihre volle Aufmerksamkeit. Während er sprach, ruhte ihr Blick auf den vertrauten Konturen seines Gesichts.
»Die ganze Zeit habe ich hart trainiert, um nach Hause kommen zu können und dich stolz zu machen, Mutter«, sagte Raphael. »Bitte glaube mir, wenn ich dir versichere: Ich habe meine Seele noch.«
Guadalupes Augen wanderten wieder zu dem dünnen, glänzenden Kettchen an seinem Hals. Mit zitternden Fingern zog Raphael das Kreuz unter seinem Hemd hervor. Glänzend und golden baumelte es von seiner Hand. In der ganzen nächtlichen Stadt gab es nichts, das heller leuchtete.
»Du hast es getragen«, flüsterte Guadalupe. »Ich hatte solche Angst, dass du nicht auf deine Mutter hörst.«
»Natürlich habe ich es getragen«, antwortete Raphael. Seine Stimme bebte, aber Herr Raphael von und zu Eiserner Wille weinte nicht. »Ich habe es getragen und es hat mich
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