Die Rettung
gestoßen, daher hofften sie beide, er habe noch über das Datum der letzten Fotokopie hinaus gelebt. Wenn sie auch sonst schon nichts erreichte, so wollte sie doch zumindest in Erfahrung bringen, wie alt ihr Sohn geworden war.
Nachdem sie geduscht hatte, legte sich Barri auf das schmale, aber überraschend bequeme Bett und schlief sofort ein. Die ganze Nacht träumte sie von Dylan. Seltsame Bilder ihres mit einem Kilt bekleideten und einem langen Schwert bewaffneten Sohnes zogen an ihr vorbei. Sie hatte ihn bei den Highland Games in Tennessee oft in dieser zeitgenössischen Kleidung gesehen, aber in ihrem Traum war sie schmutzig und zerschlissen gewesen. Und seine Züge wirkten hart, so wie damals nach seiner Operation. Davor hatte stets ein unbekümmerter Ausdruck auf seinem Gesicht gelegen, außer wenn er mit seinem Vater in Konflikt geraten war. Die Traumsequenzen reihten sich aneinander wie Bilder bei einem Diavortrag, wirkten aber so real, dass sie meinte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihren Sohn berühren zu können. Doch sie wagte es nicht, sie hatte Angst, in diesem Moment würde das Bild in tausend Stücke zerspringen.
Plötzlich begriff sie, dass dies mehr als nur ein Traum war. Sie sah keine Ausgeburt ihrer Fantasie vor sich, sondern den Mann, zu dem ihr kleiner Junge geworden war. Sie erkannte ihn kaum wieder. Er wirkte viel reifer und ... ja, härter und strenger als in ihrer Erinnerimg. Ihm mussten Dinge zugestoßen sein, über die sie noch nicht einmal nachdenken wollte, sonst hätte er sich nicht so verändert. Sie fragte sich, ob dies noch der Junge war, den sie großgezogen hatte. Sie fragte sich auch, ob er wohl sein früheres Leben so komplett aus seinen Gedanken getilgt hatte, dass ihm auch seine Mutter gleichgültig geworden war. Die Vorstellung erschien ihr unerträglich.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, schmerzte jede Faser ihres Körpers, und sie brachte nicht die Kraft auf, aus dem Bett zu steigen und sich anzukleiden. Dabei befand sie sich doch in der Stadt, in der Dylan gestorben war. Deshalb hatte sie eine Reise von fünftausend Meilen auf sich genommen; zu einem Ort, wo niemand sie oder ihren Sohn kannte. Und doch spürte sie, dass etwas von ihm - etwas Unbestimmtes, nicht Greifbares - noch immer hier lebte. Wenn sie aufstand, um Mr. MacDonell aufzusuchen, würde sie vielleicht auf etwas stoßen, was ihr überhaupt nicht gefiel.
Doch dann beschloss sie, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zu Ende zu bringen, was sie angefangen hatte. Sie erhob sich, zog sich an und ging zum Frühstück in den leeren Speisesaal hinunter, dann machte sie sich auf die Suche nach dem Mann, der Cody die Fotokopien geschickt hatte.
MacDonell besaß in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des Kreisverkehrs eine Art Büro, doch es war geschlossen. Ein handgeschriebenes Schild an der Tür informierte sie, dass der Inhaber Urlaub machte. Barri seufzte tief. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass er zurückkam, bevor sie Schottland verlassen musste.
Was nun? Müßig schlenderte sie weiter durch die Straßen. Ciorram war eine kleine, ruhige Stadt, die einen recht wohlhabenden Eindruck machte. Auf dem Hof vor einer Grundschule tobte eine Horde Kinder, und die zahlreichen Pubs bewiesen, dass die Geschäfte gut gingen. Amerikanische Fastfoodketten hatten sich in diesem entlegenen Winkel Erde noch nicht niedergelassen, dafür gab es eine Imbissbude, die Fisch und Chips verkaufte, und ein chinesisches Restaurant ein paar Blocks vom Kreisverkehr entfernt. Neben einem der Pubs lag ein großer Gemischtwarenladen, auf dessen Ladenschild >MacGregor's< stand, und auf dem Hügel oberhalb der Stadt erhob sich eine große Whiskybrennerei.
Ein eisiger Schauer rann über Barris Rücken. Schottischer Whisky war Kenneth' Lieblingsgetränk gewesen, nachdem sie ihn gezwungen hatte, das Haschischrauchen aufzugeben. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob er auch Whisky aus Ciorram gekauft hatte, aber ihr fielen nur die unzähligen Flaschen Glenfiddich und Glenlivet ein, die er im Laufe der Jahre geleert hatte.
Der Tag war warm, und der Spaziergang hatte sie durstig gemacht, also betrat sie einen der Pubs, um etwas zu trinken. Der kleine Schankraum war dämmrig, an den weiß getünchten Wänden hingen Landschaftsgemälde in schweren Rahmen, und die dunklen Holztische und Stühle waren auf Hochglanz poliert.
Am Ende der Theke standen ein paar Männer und unterhielten sich halblaut miteinander. Der junge
Weitere Kostenlose Bücher