Die Rettung
Großvater wissen.«
Barri musste ihr Recht geben. Trotzdem wollte sie sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen. Beide Frauen schwiegen eine Weile, dann fragte Cody: »Aber Sie kommen doch wieder zurück, oder nicht?« Wie zu sich selbst fügte sie hinzu: »Ich glaube es einfach nicht, dass das Ganze noch einmal von vorne losgeht.«
Barri zögerte. Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. Cody half ihr aus der Klemme.
»Nathan wäre bestimmt nicht begeistert, wenn Sie einfach spurlos verschwinden. Nein, er wäre todunglücklich.«
Bei dem Gedanken, jemand könne sie vermissen, musste Barri lächeln. »Er würde bestimmt darüber hinwegkommen.«
»Nach einer Weile schon. Trotzdem sollten Sie nicht vergessen, dass es hier einige Menschen gibt, denen Sie viel bedeuten.«
Wieder fand Barri nicht die passenden Worte. Sie dankte Cody, wusste aber, dass sie jede Chance, Dylan wiederzusehen, sofort beim Schopf packen würde - ungeachtet aller Konsequenzen.
Sie flog bis Glasgow, wo sie ein Auto mietete. Zwar wäre es wesentlich. einfacher gewesen, mit dem Zug zu fahren, aber Glen Ciorrarn hatte keinen Bahnhof. Der nächstgelegene Bahnhof befand sich in Fort William, wo es keinen Mietwagenverleih gab. Sie hätte einen mehrtägigen anstrengenden Fußmarsch bis zu dem Städtchen Ciorram in Kauf nehmen müssen.
Die Fahrt dauerte lange, war jedoch alles andere als langweilig, weil die Gegend so atemberaubend schön war, dass Barri es geradezu bedauerte, sich auf die Straße konzentrieren zu müssen. Auf den sanft geschwungenen Hängen blühten leuchtend bunte Sommerblumen, und die Berge waren mit rötlich violettem Heidekraut übersät. Das kleine Auto surrte durch schroffe Schluchten und dichte Wälder; zuerst über die Autobahn, dann über eine schmale, gewundene Bergstraße, bis sie endlich die Stelle erreichte, wo Dylan zuletzt gesehen worden war - den Turm, bei dem man den schottischen Behörden zufolge seinen blutverschmierten Mietwagen gefunden hatte.
Die Sonne ging bereits unter, als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz abstellte. Eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, zum Hotel weiterzufahren, doch sie wollte nicht bis zum nächsten Morgen warten. Nachdenklich betrachtete sie die mächtigen steinernen Mauern und das sauber gemähte Gras im Inneren des alten Turmes. Ein großer Stein, der aussah, als sei er aus einer Mauer herausgebrochen, lag genau in der Mitte der kreisrunden Fläche. Kleine schwarze Pilze bildeten ein seltsames Muster im grünen Gras. Mit wild klopfendem Herzen betrat sie den Turm, zwischen Hoffnung und Furcht hin und hergerissen.
»Hallo?« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und blickte sich dabei suchend um. Cody hatte ihr den Namen der Fee genannt. Wie hieß sie doch gleich? »Sinann?« Sprach sie den Namen auch richtig aus? Würde sich die Fee zeigen? »Hallo, bist du hier?« Barri wartete ungeduldig auf eine Antwort, die jedoch ausblieb.
Nur die Blätter der mächtigen alten Eiche über ihr raschelten leise im Wind. Sinann war nirgendwo zu sehen, und Barri kam sich allmählich ziemlich lächerlich vor. Sie bemühte sich, ihrer Enttäuschung Herr zu werden. Nun hatte sie eine so lange Reise in Kauf genommen, und es sah so aus, als würde sie doch nichts erreichen. Mit einem leisen Seufzer flüsterte sie: »Kleine Fee? Zeig dich doch bitte.« Doch wieder ertönte nur leises Blättergeraschel. Tränen brannten in Barris Augen. Sie zwinkerte sie ärgerlich fort. Schlimm genug, dass sie sich zum Narren gemacht hatte, aber wenigstens sollte man es ihr nicht auch noch ansehen.
Aus dem Augenwinkeln heraus sah sie etwas Weißes im Geäst der Eiche aufblitzen. Sie drehte sich um. Nichts. Sie musste sich getäuscht haben. Aufmerksam blickte sie sich nach allen Seiten um, konnte jedoch weder eine Fee noch sonst irgendetwas Ungewöhnliches entdecken. Endlich ließ sie sich auf den großen Stein in der Mitte des Turmes sinken; wohlwissend, dass sie gut daran täte, schleunigst weiterzufahren. Aber sie konnte und wollte noch nicht aufgeben.
Wie still es hier war! Außer dem Rascheln der Blätter und dem Motorengeräusch einiger auf der Straße nach Ciorram vorüberfahrenden Autos war kein Laut zu hören. Es roch nach Erde, Gras und einen Moment lang auch nach Rauch. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, Dylan in der Mitte des Turmes vor einem qualmenden Feuer knien zu sehen. Er trug einen Kilt und einen schwarzen Mantel. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen
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