Die Rettung
Moment still stehen, um sich zu sammeln. Der Übergang von dem westlichen Kirchenritual zum asiatischen Konzept des »Sichloslösens« erforderte eine ungeheure Konzentration und mentale Disziplin, die ihm in diesem Jahrhundert und diesem Land schon häufig zugute gekommen war.
Dylan war weder katholisch erzogen noch in seinem früheren Leben übermäßig religiös gewesen. Doch hier, wo es gegen Krankheiten kaum Heilmittel gab und die strengen Winter jedes Jahr zahlreiche Todesopfer forderten, hatte er gelernt, wie hilfreich es sein konnte, daran zu glauben, dass das Schicksal eines jeden Menschen vorbestimmt war und alles auf der Welt aus einem bestimmten Grund geschah.
Meistens absolvierte er seine Übungen, ohne dabei eine Waffe zu benutzen, oder er behalf sich mit seinem Stab, obwohl er zwei Schwerter im Strohdach seines Hauses versteckt hatte. Nachdem 1716 das Entwaffnungsgesetz in Kraft getreten war, durfte kein Highlander mehr ein Schwert führen. Dazu kam, dass es sich bei einer seiner Waffen um einen Kavalleriesäbel handelte, den er dem Kommandanten der Garnison von Glen Ciorram abgenommen hatte. Er hatte bereits eine Durchsuchung seines Hauses glimpflich überstanden, weil er die Schwerter noch rechtzeitig in der Höhle hatte verstecken können, in der seine Whiskyfässer lagerten. Doch Sinann konnte ihn unmöglich vor jedem Dragoner warnen, der plötzlich beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Damals hatte er einfach nur Glück gehabt, und deswegen wäre es sträflicher Leichtsinn gewesen, ohne triftigen Grund mit einem Schwert herumzuhantieren.
Er hatte sogar Bedenken, Brigid offen bei sich zu tragen, obwohl er bislang unbehelligt geblieben war. Dolche und Messer fielen gleichfalls unter das Entwaffnungsgesetz, aber dabei wurde oft ein Auge zugedrückt. In den Highlands waren Messer unentbehrliche Gebrauchswerkzeuge des täglichen Lebens, ebenso wie die Mistgabel und der Torfspaten, den er besaß. Auch solche Dinge konnten zu tödlichen Waffen umfunktioniert werden und waren in der Vergangenheit häufig mit in den Kampf genommen worden. Seit ungefähr einem Jahr hatten die Sassunaich aus der Königin-Anne-Garnison im unteren Teil des Tales den Mathesons und den benachbarten Clans wegen ihrer Dolche jedoch keinen Ärger mehr gemacht, solange sie nur dazu benutzt wurden, Fleisch, Leder und Stoff zu zerschneiden oder Hausgeräte zu schnitzen. Der letzte Aufstand lag über drei Jahre zurück, und die in Ciorram stationierten Dragoner begnügten sich inzwischen mit kleineren Demonstrationen ihrer Macht, solange der Matheson-Clan sich fügsam verhielt.
Den Clansleuten blieb nichts anderes übrig, als die Besatzer zähneknirschend zu dulden, während ihr Hass gegen sie stetig wuchs.
Während Dylan sein Trainingsprogramm abspulte, stieg die Sonne langsam über den Gipfeln der Berge im Osten auf. Einen Moment lang wandte er ihr das Gesicht zu und genoss die wärmenden Strahlen, doch dann erstarrte er, als er ganz am Ende seines Besitzes die Silhouette eines rot berockten, berittenen Dragoners erblickte. Der Mann hielt den Blick fest auf Dylans Haus gerichtet. Beim Anblick eines englischen Soldaten auf seinem Land stieg heiße Wut in Dylan auf, er musterte den Eindringling ans schmalen Augen und holte dabei tief Atem, weil er fürchtete, sonst die Beherrschung zu verlieren. Die innere Ruhe, die er während seiner Übungen verspürt hatte, war verflogen, er empfand nur noch einen unbändigen Hass gegen die englische Armee. Trotzdem zwang er sich, ruhig stehen zu bleiben und den Rotrock zu beobachten. Der Dragoner saß ebenfalls regungslos auf seinem Pferd und ließ Dylan nicht aus den Augen.
Die Tür knarrte, Dylan drehte sich um und sah seinen Sohn im Hof stehen und seinen Vater und den englischen Soldaten betrachten. Dylan klemmte seinen Stab unter den rechten Arm und lächelte dem Jungen zu.
»Maduinn math, athair«, sagte Ciaran. Dabei rieb er sich verschlafen die Augen. Für einen so kleinen Jungen klang seine Stimme erstaunlich kräftig, und genau wie seine Mutter sprach er stets voller Überzeugung. Sein Plaid schleifte über den gefro-renen Boden, da er es nicht ordentlich in den Gürtel geschoben hatte, und seine Wangen sowie seine Nasenspitze waren vor Kälte gerötet.
Dylan fuhr seinem Sohn durch das dunkle Haar. »Sprich Englisch, Sohn.«
Ciaran zwinkerte ein paarmal, dann waren ihm die richtigen Worte eingefallen. Strahlend krähte er: »Guten Morgen, Vater!«
Dylan hatte sein Wissen um
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