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Die Rettung

Titel: Die Rettung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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wirklich Dylan sein? Ein Teil von ihr war bereit, das Unmögliche zu glauben. Lächerliches Wunschdenken, schalt sie sich selbst. Und doch ... Konnte sie den Tod ihres Sohnes denn immer noch nicht akzeptieren? Oder bestand zwischen ihm und diesem Bild wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit?
    Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, um die Zeichnung aus der Nähe zu studieren. Der Mund dieses Mannes war mit Sicherheit nicht der Dylans; ein so grausames, höhnisches Lächeln hatte sie nie an ihrem Sohn gesehen. Aber als sie den Mund mit einer Hand abdeckte, sahen Dylans Augen sie an. Unter seinen Brauen. Und nicht nur seinen, sondern auch denen seines Vaters. Kenneth hatte dieselben Augen, dieselbe Stirn. Fröstelnd schlang Barri die Arme um den Körper.
    Der Name >Dilan< konnte ein bloßer Zufall sein. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht handelte es sich bei dem Straßenräuber auf dem Steckbrief wirklich um den Matheson der alten Familienerzählungen - jenen berühmten Black Dylan. Aber anzunehmen, er könne zugleich ihr Sohn gewesen sein, hieß, das Unmögliche für möglich zu halten. Doch irgendwie erschien es ihr einfacher, an Magie und Zeitreisen zu glauben als sich damit abzufinden, dass ihr einziges Kind mit nur dreißig Jahren brutal ermordet worden war. Lange betrachtete sie die Zeichnung; versuchte, Dylan darin zu erkennen, doch je länger sie das Bild anstarrte, desto stärker wurde ihr bewusst, dass sie nie endgültige Klarheit gewinnen würde.
    Der Unterricht war vorüber, und Ronnie räumte das Studio auf, bevor er das Licht löschte, die Tür hinter sich zufallen ließ und nach Hause fuhr. Barri blieb allein im Apartment zurück, das jetzt nicht mehr nach Staub und Verfall, sondern nach Reinigungsmitteln roch, wozu sich der leicht modrige Geruch der Duschen unten im Studio gesellte. Barri trug den Eimer in die Küche und spülte den Schwamm gründlich aus, bevor sie ihn in das Spülbecken fallen ließ. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, war aber überhaupt nicht hungrig. Seufzend beschloss sie, unter die Dusche zu gehen und dann den Fernseher einzuschalten. Er würde die furchtbare Stille vertreiben.
    Doch sie als durch den Wohnraum zum Schlafzimmer ging, blieb sie einen Moment vor den Bücherregalen stehen und musterte die einzelnen Titel nachdenklich. Alles Abhandlungen über die Geschichte Schottlands, die Kriege, die Könige, die Kultur. Sie griff aufs Geratewohl nach einem Buch, schlug es auf und las, was da über die Zwistigkeiten zwischen Robert the Bruce und König Edward I. geschrieben stand. Trockene Fakten und Daten. Namen von Menschen, die für sie gesichtslose Wesen waren. Sie klappte das Buch wieder zu, dann blickte sie noch einmal zu der Zeichnung des Straßenräubers hinüber. Dies war greifbare schottische Geschichte; dieser Mann war vielleicht ihr Sohn gewesen.
    Es klopfte an der Hintertür. Noch immer in Gedanken versunken ging sie, um zu öffnen. Gerade als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, hämmerte jemand so hart gegen das Holz, dass das darin eingelassene kleine Fenster leise klirrte. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, dann zog sie den Vorhang am Fenster ein Stückchen beiseite.
    Kenneth stand draußen auf der Treppe. Im Schein der Verandalampe konnte sie sein wutverzerrtes Gesicht sehen. Die wild blickenden, glänzenden Augen verrieten ihr, dass er vollkommen betrunken war. Barri schlug das Herz bis zum Hals.
    Hastig zog sie den Vorhang vor, doch es war zu spät, er hatte sie schon gesehen und donnerte mit voller Wucht gegen die Tür.
    »Mach auf, du Miststück!«
    Alles, nur das nicht. Barri schlich, das Buch fest gegen die Brust gedrückt, rückwärts ins Wohnzimmer. Sie zitterte am ganzen Körper. Kenneth brüllte etwas Unverständliches, dann versetzte er der Tür einen Tritt. Das Glas klirrte, beim nächsten Tritt zerbarst es, und ein Scherbenregen ergoss sich über den Linoleumfußboden.
    »Du bist immer noch meine Frau! Ich kenne meine Rechte!«
    »Kenneth! Geh bitte! Lass mich in Ruhe!«
    Genauso gut hätte sie gegen eine Wand anreden können. Kenneth griff durch das Loch im Glas nach dem Knauf und öffnete die Tür. Seine Ledersohlen knirschten auf den Scherben, sein Atem ging schwer. Barri zögerte nicht länger, sondern floh die Treppe zum Studio hinunter, dort befand sich der einzige andere Ausgang des Gebäudes.
    Kenneth stürmte hinterher und bekam sie am Haar zu fassen, als sie gerade die letzte Stufe erreicht hatte. Barri schrie

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