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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Balkon im ersten Stock getragen. Man erwartete eine Rede von ihr.
    »Auch heute morgen versuchen die Sicherheitskräfte, uns von hier zu vertreiben«, begann sie. »Sie werden bestimmt wiederkommen, und wir werden ihnen wieder trotzen. Wir stören sie, weil wir uns hier einen kleinen Freiraum geschaffen haben, der sich der Kontrolle des Establishments entzieht. Uns steht mit diesem Gymnasium ein großartiges Labor zur Verfügung, in dem wir versuchen werden, etwas Vernünftiges aus unserem Leben zu machen.«
    Sie trat näher an die Brüstung heran. »Wir werden unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.« Vor Publikum zu sprechen war etwas anderes als vor Publikum zu singen, aber es war nicht minder berauschend.
    »Erfinden wir eine neue Art der Revolution, eine gewaltlose Revolution, die neue Visionen vom Fortbestand der Gesellschaft entwickelt. Die Revolution ist in erster Linie ein Liebesakt, hat Che Guevara einmal gesagt. Er konnte seine Vision nicht verwirklichen, aber wir werden alles daransetzen, es mit der unseren zu schaffen.«
    »Ja, aber dies ist auch die Revolution der Vorstädte und aller jungen Leute, denen die Bullen ein Dorn im Auge sind. Wir hätten diese Schweine gestern abmurksen sollen!« brüllte jemand.
    Eine andere Stimme: »Nein, dies ist die Revolution der Ökologen gegen Umweltverschmutzung und Atomkraft!«
    »Eine Revolution gegen den Rassismus!« rief ein dritter.
    »Nein, eine Revolution gegen das Großkapital!« protestierte ein vierter. »Wir haben dieses Gymnasium besetzt, weil es ein Symbol für die Ausbeutung des Volkes durch die Bourgeois ist.«
    Alle schrien plötzlich durcheinander. Viele wollten diese Manifestation für ihre eigenen Anliegen in Anspruch nehmen, und weil die Ziele sehr verschieden waren, sah man schon erste haßverzerrte Gesichter.
    »Sie sind wie eine Schafherde ohne Hirten«, murmelte Francine. »Das ist gefährlich.«
    »Wir müssen ihnen ein klares Ziel vorgeben, und zwar schnell, sonst ist hier bald die Hölle los«, mahnte auch David.
    »Ja, wir müssen unsere Revolution genau definieren, damit andere sie nicht für ihre Zwecke mißbrauchen können«, fügte Ji-woong hinzu.
    Julie fühlte sich in die Enge getrieben. Ratlos blickte sie auf die vielen unruhigen Menschen hinab, die offenbar bereit war, auf den zu hören, der am lautesten brüllen konnte.
    Der haßerfüllte Blick des Burschen, der die Polizei bekriegen wollte, bestürzte sie zutiefst. Sie kannte ihn. Es war ein Mitschüler, der seine Aggressionen an schwachen Lehrern ausließ, ein feiger Rowdy, der Schüler aus der Unterstufe schikanierte. Aber auch der Umweltschützer und der Klassenkämpfer sahen nicht viel sympathischer aus.
    Julie wollte ›ihre‹ Revolution nicht irgendwelchen Rowdys oder politischen Fanatikern überlassen. Sie mußte die Menge in eine andere Richtung lenken.
    Am Anfang war das Wort. Man mußte die Dinge beim Namen nennen. Aber wie sollte sie ihre Revolution definieren?
    Plötzlich kam ihr die Erleuchtung. Natürlich: die Revolution der Ameisen! Das war das Motto des gestrigen Konzerts gewesen, das war ihre Hymne, das stand auf den T-Shirts der Amazonen, und auch das Motiv auf der Fahne symbolisierte diese Revolution der Ameisen.
    Sie hob beschwörend die Arme. »Nein! Nein! Wir dürfen uns nicht von diesen uralten Themen in Beschlag nehmen lassen!
    Das ist doch Schnee von vorgestern. Eine neue Revolution braucht neue Ziele.«
    Keine Reaktion.
    »Ja, wir sind wie die Ameisen! Klein, aber stark durch Einheit. Uns liegt nichts an Formalitäten und mondänen Veranstaltungen! Wir wollen eine echte Gemeinschaft! Wir sind wie die Ameisen. Wir haben keine Angst, scheinbar uneinnehmbare Festungen anzugreifen, denn gemeinsam sind wir stark. Die Ameisen weisen uns einen Weg, der sich als segensreich erweisen kann. Jedenfalls hat er den großen Vorteil, noch nie erprobt worden zu sein.«
    Murren in der skeptischen Menge. Der Funke zündete nicht.
    Sie fuhr rasch fort:
    »Die Ameisen sind winzig, aber gemeinsam lösen sie alle Probleme. Sie bieten uns nicht nur neue Werte, sondern auch eine neue soziale Struktur, eine neuartige Kommunikation und neuartige zwischenmenschliche Beziehungen.« Diese vagen Ausführungen stellten die Aktivisten der verschiedenen Richtungen natürlich nicht zufrieden.
    »Und die Umweltverschmutzung?«
    »Und der Rassismus?«
    »Und der Klassenkampf?«
    »Und die Probleme der Vororte?«
    »Ja, ganz richtig«, wurden Stimmen in der Menge laut.
    Julie fielen

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