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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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ihre Revolution völlig aus den Fugen geraten.
    Die Leute mußten begreifen, welchen Sinn dieses bunte Treiben hatte, doch leider war sich Julie selbst darüber nach wie vor nicht im klaren.
    Eine Stunde lang beobachtete sie die Ameisen in ihrem großen Aquarium, weil Edmond Wells behauptete, das sei eine große Hilfe, wenn man eine ideale Gesellschaft schaffen wolle.
    Sie sah allerdings nur kleine schwarze Insekten, die ihr ziemlich abstoßend vorkamen und wirr umherliefen. Hatte sie sich geirrt, hatte Edmond Wells alles nur symbolisch gemeint?
    Ameisen waren schließlich Ameisen, und Menschen waren Menschen. Wie sollte man die Lebensregeln dieser winzigen Geschöpfe auf Menschen übertragen können?
    Sie ging ins Gymnasium, setzte sich ins Arbeitszimmer des Geschichtslehrers, öffnete die Enzyklopädie und suchte wieder einmal nach Revolutionen, von denen sie sich inspirieren lassen könnte.
    Dabei stieß sie auf die Geschichte der futuristischen Bewegung. In den Jahren 1900 bis 1920 waren überall neue künstlerische Stilrichtungen entstanden: die Dadaisten in der Schweiz, die Expressionisten in Deutschland, die Surrealisten in Frankreich, die Futuristen in Italien und Rußland. Alle futuristischen Maler, Dichter und Philosophen hatten eines gemeinsam: ihre Bewunderung für Maschinen, für Schnelligkeit und jede fortgeschrittene Technologie. Sie waren überzeugt, daß der Mensch eines Tages von Maschinen gerettet werden könne, und in futuristischen Theaterstücken kamen als Roboter verkleidete Schauspieler den bedrängten Menschen zu Hilfe. Doch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich die italienischen Futuristen unter Marinetti der Ideologie des Diktators Benito Mussolini an, weil er in ihren Augen besonders fortschrittlich war und Maschinen aller Art –
    hauptsächlich Kriegsgerät – konstruieren ließ. Aus den gleichen Gründen traten in Rußland manche Futuristen der kommunistischen Partei bei. In beiden Ländern wurden die Künstler für politische Propaganda mißbraucht; Stalin schickte sie in Rußland später in den Gulag oder ließ sie ermorden.
    Als nächstes informierte Julie sich über die Surrealisten. Der Cineast Luis Bunuel, die Maler Max Ernst, Salvador Dali und René Magritte, der Schriftsteller André Breton – sie alle glaubten, die Welt durch ihre Kunst verändern zu können, doch weil sie Individualisten waren, zerstritten sie sich sehr schnell.
    Recht interessant fand Julie die französischen
    ›Situationnistes‹ der sechziger Jahre. Sie strebten eine Revolution mit Hilfe von Possenreißen und Streichen an und hielten sich beharrlich von allen Medien fern, weil sie dieses
    ›Gesellschaftsspektakel‹ ablehnten. Jahre später beging ihr Anführer Guy Debord Selbstmord, nachdem er sein erstes Fernsehinterview gegeben hatte, und mittlerweile wußten nur noch einige wenige Spezialisten, die sich mit der Revolte von 1968 beschäftigten, wer diese ›Situationnistes‹ gewesen waren.
    Julie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den ›richtigen‹
    Revolutionen zu. Im Süden Mexikos hatte es vor gar nicht so langer Zeit die Revolte der Indianer von Chiapas gegeben. Ihr Kommandant Marcos hatte gegen ganz konkrete soziale Mißstände protestiert, gegen das Elend der mexikanischen Indianer und die Ausrottung indianischer Zivilisationen.
    Julies ›Revolution der Ameisen‹ war hingegen nicht aus Zorn über soziale Ungerechtigkeiten ausgebrochen. Ein Kommunist hätte sie zweifellos als kleinbürgerliche Revolution eingestuft, denn ihre einzige Motivation war eine Abneigung gegen geistige Unbeweglichkeit.
    Vielleicht sollte sie sich lieber an den Kulturrevolutionen orientieren. Auf Jamaika hatte Bob Marley eine Rasta-Revolution ins Rollen gebracht. Hier gab es immerhin Ähnlichkeiten mit der ›Revolution der Ameisen‹: Beiden hatte Musik als Ausgangspunkt gedient. Weitere Gemeinsamkeiten waren die pazifistische Gesinnung, der Gebrauch von Joints und Symbole, die einer uralten Kultur entlehnt waren (die
    ›Rasta‹ beriefen sich auf König Salomo und auf die Königin von Saba). Doch Bob Marley hatte die Gesellschaft nicht verändern wollen. Seine Anhänger sollten nur ihre Sorgen und ihre Aggressivität vergessen.
    In den Vereinigten Staaten hatten Quäker und Amish-People interessante Formen eines friedlichen Zusammenlebens entwickelt, aber sie kapselten sich völlig von der übrigen Welt ab, und ihre Lebensregeln waren nur auf den Glauben gegründet. Von allen laizistischen Kommunitäten

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