Die Revolution der Ameisen
Steuereinkünfte nicht einmal mehr zur Finanzierung der Schulen, der Verwaltungs-behörden und der Polizei ausreichen.«
Kommissar Linart fragte sich, worauf Dupeyron eigentlich hinaus wollte. »Und was erwarten Sie von mir?«
»Wie weit sind Sie mit Ihrer Untersuchung über den Tod des Direktors der Rechtsabteilung des Forstamts?«
»Das ist eine merkwürdige Geschichte. Ich habe beim gerichtsmedizinischen Institut eine Autopsie beantragt«, erwiderte der Kommissar.
»In Ihrem vorläufigen Bericht habe ich gelesen, daß der Leichnam in der Nähe einer drei Meter hohen Betonpyramide aufgefunden wurde, die bisher niemandem aufgefallen war, weil sie hinter hohen Bäumen versteckt ist.«
»Das stimmt.«
»Sehen Sie! Es gibt also schon Leute, die sich über das Verbot, in einem Naturschutzgebiet zu bauen, hinwegsetzen.
Dadurch haben sie, vielleicht ohne es zu wollen, einen interessanten Präzedenzfall für unsere japanischen Freunde geschaffen. Was haben Sie über diese Pyramide herausgefunden?«
»Nicht viel. Nur daß sie im Katasteramt nicht registriert ist.«
»Sie müssen unbedingt Näheres darüber in Erfahrung bringen«, beharrte der Präfekt. »Es hindert Sie doch nichts daran, die Ermittlungen über Pinsons Tod mit Ermittlungen über den Bau dieser Pyramide zu kombinieren. Ich bin überzeugt, daß da irgendein Zusammenhang besteht.«
Sein Ton war kategorisch. Die Unterhaltung wurde von einem Bürger unterbrochen, der den Präfekten bat, seinem Kind zu einem Platz im Hort zu verhelfen.
Nach dem Dessert begannen die Gäste wieder zu tanzen. Es war schon spät, und Julie und ihre Mutter wollten nach Hause.
Kommissar Linart erbot sich, sie zu begleiten.
Ein Diener brachte ihnen die Mäntel, und Linart gab ihm ein Trinkgeld. Während sie auf der Freitreppe warteten, bis ein Chauffeur mit der Limousine des Kommissars vorfuhr, flüsterte Dupeyron diesem ins Ohr: »Diese mysteriöse Pyramide interessiert mich wirklich sehr. Sie haben mich doch verstanden?«
28. MATHEMATIKSTUNDE
»Ja, Madame.«
»Nun, wenn Sie die Frage verstanden haben, wiederholen Sie sie bitte.«
»Wie bildet man mit sechs Streichhölzern vier gleich große gleichseitige Dreiecke?«
»Ausgezeichnet. Kommen Sie nach vorne und demonstrieren Sie es uns.«
Julie stand auf und ging langsam zur Tafel. Sie hatte keine Ahnung von der Lösung dieser Aufgabe, die die Mathematiklehrerin ihr gestellt hatte. Hilfesuchend ließ sie ihren Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Ihre Mitschüler betrachteten sie spöttisch. Zweifellos hatten alle außer ihr die richtige Antwort parat. Die Gesichter spiegelten amüsierte Gleichgültigkeit, Mitleid oder Erleichterung wider, nicht selbst aufgerufen worden zu sein.
In der ersten Reihe saßen die Streber, gleich dahinter all jene, die mit ihnen wetteiferten und selbst Klassenbeste werden wollten. Es folgten die mittelmäßigen Schüler, die sich nach Kräften abmühten, ohne große Erfolge verbuchen zu können, und ganz hinten, in der Nähe der Heizung, war der Zufluchtsort der Außenseiter.
Dort saßen die ›Sieben Zwerge‹, die eine Rockgruppe dieses Namens ins Leben gerufen hatten und mit ihren Klassenkameraden kaum Kontakt hielten.
»Nun, wie lautet die Lösung?« fragte die Lehrerin.
Einer der ›Sieben Zwerge‹ gestikulierte mit den Fingern, so als wollte er eine geometrische Form andeuten, die Julie jedoch nicht erkannte.
»Sehen Sie, Mademoiselle Pinson, ich verstehe ja, daß der Tod Ihres Vaters Sie mitgenommen hat, aber das ändert nichts an den mathematischen Gesetzen, die die Welt regieren. Ich wiederhole: sechs Streichhölzer, vier gleich große gleichseitige Dreiecke … Versuchen Sie, anders zu denken. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Sechs Streichhölzer, vier Dreiecke …
Daraus entsteht – was?«
Julie kniff ihre hellgrauen Augen zusammen. Welche Figur deutete der Junge dort hinten nur an? Jetzt bewegte er auch die Lippen, Silbe für Silbe. Pi … ro … ni … de …
»Pironide«, sagte sie.
Die Klasse lachte schallend, und Julies Komplice schnitt eine verzweifelte Grimasse.
»Man hat Ihnen schlecht eingesagt«, kommentierte die Lehrerin. »Nicht ›Pironide‹, sondern Pyramide. Diese Figur repräsentiert die dritte Dimension, die Eroberung der Höhe. Sie erinnert uns daran, daß es möglich ist, die Welt zu erweitern, indem man von einer Ebene zum Volumen fortschreitet.
Stimmt’s, David?«
Mit wenigen großen Schritten stand sie neben dem Jungen, der Julie
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