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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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hatte helfen wollen.
    »David, Sie müssen noch lernen, daß man im Leben zwar betrügen darf – aber nur unter der Voraussetzung, daß man sich dabei nicht erwischen läßt. Ich habe Ihre Tricks genau gesehen.
    Setzen Sie sich, Julie.« Sie schrieb an die Tafel: »Die Zeit.«
    »Heute haben wir über die dritte Dimension gesprochen, über die Höhe. Morgen werden wir uns mit der vierten beschäftigen
    – mit der Zeit. Auch die Zeit gehört zur Mathematik. Wo, wann und wie wirkt sich ein Ereignis der Vergangenheit auf die Zukunft aus? Ich könnte Ihnen morgen beispielsweise die Frage stellen: Warum hat Julie Pinson gestern eine Sechs bekommen, und unter welchen Umständen und wann wird ihr die nächste Sechs zuteil?«
    Spöttisches Gelächter aus den vorderen Reihen. Julie stand auf.
    »Setzen Sie sich, Julie. Ich habe Sie nicht aufgerufen.«
    »Nein, aber ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
    »Bezüglich der Sechs?« fragte die Lehrerin ironisch. »Dazu ist es zu spät. Sie steht schon in meinem Notizbuch.«
    Julie fixierte die Lehrerin mit ihren metallgrauen Augen.
    »Sie haben gesagt, es sei wichtig, anders zu denken, aber Sie selbst – Sie denken immer nur auf ein und dieselbe Weise!«
    »Ich möchte Sie bitten, nicht ausfallend zu werden, Mademoiselle Pinson!«
    »Ich bin nicht ausfallend. Aber Sie unterrichten ein Fach, das keinerlei praktischen Bezug zur Welt hat. Sie versuchen einfach, unseren Geist gefügig zu machen. Wenn man sich Ihre ganzen Vorträge über Dreiecke und Kreise erst einmal eingeprägt hat, wird man auch sonstigen Quatsch gedankenlos nachplappern.«
    »Möchten Sie eine zweite Sechs, Mademoiselle Pinson?«
    Julie zuckte die Schultern, griff nach ihrem Rucksack, ging zur Tür und schmetterte sie zur großen Verwunderung ihrer Mitschüler hinter sich zu.
     

29. ENZYKLOPÄDIE
     
    Säuglingstrauer: Im Alter von acht Monaten erlebt das Baby einen besonderen Schmerz, den die Kinderärzte
    ›Säuglingstrauer‹ nennen. Jedesmal, wenn seine Mutter fortgeht, glaubt das Kind, daß sie nie mehr zurückkommen wird. Diese Befürchtung ruft Tränen und andere Angstsymptome hervor. Auch wenn die Mutter zurückkehrt, wird es beim nächstenmal die gleichen Ängste haben. In diesem Alter begreift das Baby, daß es auf der Welt Dinge gibt, die es nicht beeinflussen kann. Die ›Säuglingstrauer‹ hat ihre Ursache in der Erkenntnis, daß es ein eigenständiges Wesen ist.
    Ein Drama: Ich unterscheide mich von allem, was mich umgibt!
    Das Baby und seine Mutter sind nicht untrennbar miteinander verbunden, deshalb kann man plötzlich allein sein, oder man wird zum Kontakt mit ›Fremden, die nicht Mama sind‹
    gezwungen (als Fremde werden alle Menschen außer Mama –
    und eventuell noch Papa – empfunden).
    Erst im Alter von 18 Monaten akzeptiert das Kleinkind das zeitweilige Verschwinden der Mutter.
    Die meisten Ängste, die der Mensch später, bis ins hohe Alter hinein, erleben wird – Angst vor der Einsamkeit, vor dem Verlust eines geliebten Wesens, vor Fremden etc. – rühren von dieser allerersten tiefen Verstörung her.
    EDMOND WELLS,
    Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III

30. RUNDBLICK
    Es ist kalt, doch die Angst vor dem Unbekannten gibt ihnen Kraft. Am frühen Morgen marschieren die zwölf jungen Kundschafterinnen und die alte Ameise los. Sie müssen sich beeilen, um ihre Heimatstadt vor der Gefahr des ›weißen Schildes‹ zu warnen.
    Auf einer Felsklippe, die ein Tal überragt, halten sie an, um die Landschaft zu betrachten und nach der günstigsten Abstiegsmöglichkeit zu suchen.
    Das Sehvermögen der Ameisen unterscheidet sich von jenem der Säugetiere. Ihre Komplexaugen sind Gebilde aus einer Vielzahl einzelner Facetten, die ihrerseits aus einer Linse, einem Kristallkegel und neun Retinulazellen bestehen. Deshalb setzt sich für sie die wahrgenommene Umwelt aus einer Vielzahl von Bildpunkten zusammen, die zusammengefügt eine klare Sicht ermöglichen. Einzelheiten können sie nicht so gut erkennen wie die Säugetiere, doch dafür entgeht ihnen nicht die geringste Bewegung.
    Von links nach rechts sehen die dreizehn Ameisen jetzt die düsteren Torfstiche der Länder des Südens, wo sich goldbraune Fliegen und streitsüchtige Bremsen tummeln; dann die großen smaragdgrünen Felsen des ›Blumenbergs‹, die gelbe Ebene der Länder des Nordens und den schwarzen Wald, wo im Adlerfarn kecke Finken hausen.
    Ameisen können Rottöne schlecht erkennen, nehmen dafür aber jede

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