Die Revolution der Ameisen
gemeinsamen Bemühungen bleiben erfolglos.
Es ist wirklich zum Verzweifeln, daß man an eine so reiche Nahrungs-und Flüssigkeitsquelle nicht herankommt!
Nr. 103 erinnert sich an eine Wissenschaftssendung im Fernsehen, die sich mit dem Hebelprinzip beschäftigte. Richtig angewandt, ermöglichte diese Methode das Heben schwerster Lasten. Vielleicht sollte man es einmal ausprobieren. Sie schlägt vor, einen trockenen Zweig unter das Ei zu schieben und sich gemeinsam an diesen Hebel zu hängen, um das Ei anzuheben und aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Die jungen Ameisen befolgen willig ihre Anweisungen. Nr. \1 ist von diesem wissenschaftlichen Experiment besonders fasziniert, und es gelingt tatsächlich: Das riesige Ei gerät aus dem Gleichgewicht, neigt sich zur Seite und fällt schließlich um. Bedauerlicherweise zerbricht die Schale im weichen Sand jedoch nicht, und das Ei bleibt in horizontaler Lage genauso unzugänglich wie in der Vertikale. Nr. 5 äußert gewisse Zweifel an den technischen Fähigkeiten der Finger und beschließt, lieber wieder die üblichen Praktiken der Ameisen anzuwenden. Sie schließt ihre Mandibel zu einem spitzen Dreieck und verwendet sie als Bohrer, indem sie den Kopf immer wieder von links nach rechts dreht. Die Schale ist wirklich stabil: Nach hundert Bewegungen ist nur ein winziger heller Streifen zu erkennen. Ein mageres Resultat für soviel Arbeit! Nr. 103 hat sich bei den Fingern daran gewöhnt, daß alles sofort funktioniert, und dadurch hat sie die Geduld und Sturheit ihrer Artgenossen eingebüßt.
Nr. 5 ist erschöpft. Nr. 13 löst sie ab, dann Nr. 12, dann eine andere Ameise. Nacheinander benutzen sie ihren Kopf als Bohrer. Es dauert länger als eine halbe Stunde, bis ein winziges Loch entsteht, aus dem eine durchsichtige Gallertmasse sickert.
Die Ameisen stürzen sich gierig auf diese nahrhafte Flüssigkeit.
Nr. 5 wackelt zufrieden mit ihren Fühlern. Die Techniken der Finger mögen ja sehr interessant sein, aber effektiver ist und bleibt die Arbeitsweise der Ameisen. Nr. 103 verschiebt eine Debatte über dieses Thema auf später; jetzt hat sie Besseres zu tun. Sie steckt ihren Kopf durch das Loch und labt sich an der gelben Substanz.
Der Boden ist so heiß und trocken, daß das Ei sich in ein Omelette verwandelt, doch die Ameisen sind viel zu ausgehungert, um diesem Phänomen Beachtung zu schenken.
Sie essen und trinken und tanzen ausgelassen im Ei herum.
41. ENZYKLOPÄDIE
Das Ei: Das Vogelei ist ein Meisterwerk der Natur.
Bewundern wir zunächst einmal die Struktur der Schale. Sie besteht aus dreieckigen Mineralsalzkristallen, deren Spitzen nach innen weisen. Wird von außen Druck ausgeübt, schieben sich diese Kristalle ineinander, so daß die Schale noch widerstandsfähiger wird. Hier herrscht das gleiche Prinzip wie bei den Gewölben in romanischen Kathedralen: je größer der Druck, desto stabiler die Struktur. Wird hingegen von innen Druck angewandt, so lösen sich die Dreiecke voneinander, und das ganze Gefüge bricht leicht auseinander.
Auf diese Weise ist das Ei einerseits auf der Außenseite stabil genug, um dem Gewicht der brütenden Mutter standzuhalten, und andererseits auf der Innenseite so fragil, daß ein Junges die Schale aufpicken kann.
Das Ei besitzt aber weitere erstaunliche Eigenschaften. Damit der Vogelembryo sich richtig entwickeln kann, muß er immer über dem gelben Dotter liegen. Manchmal wird das Ei jedoch umgeworfen, deshalb hängt der Dotter an zwei Hagelschnüren, die seitlich zur Schalenhaut führen. Diese federnde Aufhängevorrichtung gleicht alle Bewegungen des Eis aus und bringt den Embryo in die richtige Position zurück.
Ist das Ei gelegt, bewirkt die plötzliche Abkühlung eine Trennung der beiden inneren Eihüllen und die Entstehung einer Luftkammer, die es dem Küken erlaubt, einige Sekunden zu atmen, bevor es ausschlüpft – lange genug, um die Schale aufzupicken oder notfalls sogar zu piepsen, wenn es die Hilfe der Mutter braucht.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
42. DAS SPIEL ›EVOLUTION‹
Während er sich in der Küche des gerichtsmedizinischen Instituts ein Omelette zubereitete, wurde der Gerichtsmediziner durch ein Klingeln gestört. Der Besucher war Kommissar Maximilien Linart, der sich nach der Todesursache von Gaston Pinson erkundigen wollte.
»Möchten Sie auch ein Stück Omelette?« fragte der Mediziner höflich.
»Nein, danke. Haben Sie die Autopsie
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