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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Fliegen mit metallischen Flügeldecken laben sich an zarten Zweigen, während Holzbocklarven Tunnels in die Rinde graben. Raupen von Spannern wachsen in Blättern heran, die von ihren Eltern zusammengerollt und zu Paketen verschnürt worden sind.
    Etwas weiter hängen grüne Raupen an Fäden und versuchen, die unteren Äste zu erreichen. Die Ameisen schneiden diese Fäden durch und verspeisen die Raupen. Wenn der Baum sprechen könnte, würde er sich bei ihnen bedanken.
    Nr. 103 sagt sich, daß die Ameisen ihre Rolle als Räuber zumindest akzeptieren. Sie töten und fressen ohne Gewissensbisse alles, was ihnen vor die Mandibel kommt.
    Hingegen wollen die Finger ihren Platz im ökologischen Kreislauf vergessen. Sie können ein Tier nicht fressen, wenn sie zusehen mußten, wie es getötet wurde. Sie verspüren nur Appetit auf Lebensmittel, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem Tier haben: Alles muß kleingeschnitten, gefärbt und vermischt sein. Zwar verspeisen die Finger auch Tiere, aber sie wollen sich den Anschein geben, als wären sie unschuldig an deren Ermordung.
    Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Überlegungen dieser Art. Pilze wachsen um den Stamm herum und bilden halbkreisförmige Stufen. Die Ameisen holen tief Luft und beginnen den Aufstieg.
    Nr. 103 bemerkt Zeichen, die in die Rinde geschnitten sind.
    »Richard liebt Liz« steht in einem Herz, das von einem Pfeil durchbohrt ist. Nr. 103 kann die Schrift der Finger nicht entziffern, sie versteht nur, daß ein Messer dem Baum Schmerz zugefügt hat, denn er weint eine Träne aus orangefarbenem Harz.
    Der Ameisentrupp macht einen weiten Bogen um ein Spinnennetz, in dessen Seidenfäden Leichen ohne Köpfe oder ohne Gliedmaßen hängen. Die Belokanerinnen steigen immer höher an dem Eichenturm empor. Endlich entdecken sie in den mittleren Etagen eine Art große runde Frucht, die nach unten hin durch eine Röhre verlängert ist.
    Das ist das Wespennest der großen Eiche, sagt Nr. 16 und deutet mit ihrem rechten Fühler in Richtung des Papiergebildes.
    Nr. 103 starrt fasziniert darauf, doch weil die Abenddämmerung schon hereinbricht, beschließen die Ameisen, im Schutz eines Knorrens zu übernachten.
    Nr. 103 kann nicht einschlafen. Ist es wirklich möglich, daß in dieser Papierkugel das Mittel verborgen liegt, das sie in eine Prinzessin verwandeln kann?
     

56. ENZYKLOPÄDIE
     
    Gesellschaftlicher Wandel: Die Inka glaubten an Determinismus und an Kasten. Bei ihnen gab es keine Probleme mit der Berufswahl: Der Beruf stand von Geburt an fest. Die Söhne von Landwirten wurden Landwirte, die Söhne von Soldaten – Soldaten. Um jedes Risiko zu vermeiden, wurde der Körper des Kindes sofort mit dem Kastenmerkmal versehen. Zu diesem Zweck steckten die Inka die Köpfe der Neugeborenen, deren Schädel ja noch weich sind, in spezielle Holzgestelle, die ihnen die gewünschte Form verliehen, beispielsweise quadratisch für Königskinder. Das war nicht schmerzhafter als das Tragen einer Zahnspange. Auf diese Weise waren die Söhne des Königs, sogar nackt und ausgesetzt, sofort als künftige Könige kenntlich, denn nur sie konnten die quadratischen Kronen tragen. Die Schädel von Soldatenkindern erhielten eine dreieckige, die von Bauernkindern eine spitze Form.
    Bei den Inka war jeder gesellschaftliche Wandel ausgeschlossen. Die Ordnung konnte nicht durch persönlichen Ehrgeiz bedroht werden, denn die Schädelform bestimmte lebenslang den Beruf und die soziale Stellung.
    EDMOND WELLS,
    Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III

57. GESCHICHTSSTUNDE
     
    Die Schüler nahmen ihre Plätze ein und holten ihre Hefte und Kugelschreiber hervor. Die Geschichtsstunde begann.
    Der Lehrer schrieb mit weißer Kreide an die Tafel: »Die Französische Revolution von 1789«, doch weil er wußte, daß man einer Klasse nie lange den Rücken zukehren durfte, drehte er sich gleich wieder um und holte einen Stapel Blätter aus seiner Mappe hervor.
    »Ich habe Ihre Arbeiten korrigiert.« Er ging durch die Reihen, verteilte die Blätter und gab kurze Kommentare ab.
    »Achten Sie mehr auf Ihre Orthografie!« – »Sie machen Fortschritte.« – »Tut mir leid, aber Cohn-Bendit war nicht 1789 aktiv, sondern 1968.«
    Er hatte mit den besten Noten begonnen und inzwischen sogar schon die Fünfer verteilt, aber Julie hatte ihre Arbeit immer noch nicht zurückbekommen.
    Endlich fiel sein Satz wie ein Fallbeil: »Julie: Sechs plus. Ich habe Ihnen keine glatte Sechs

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