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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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während sie den Ton in die Länge zog.
    Ihr ganzer Mund erwachte, um sich an der Suche nach dem perfekten Ton zu beteiligen. Das ›B‹ wurde noch reiner, noch klarer. Ihr Gaumen und ihre Zähne vibrierten, während die Zunge sich nicht mehr bewegte.
    Im Saal kehrte Ruhe ein. Sogar die Rentner hantierten nicht mehr an ihren Hörgeräten herum. Die Prügelei zwischen Schwarzen Ratten und Aikido-Mädchen endete.
    Julies Lungen hatten ihren Luftvorrat erschöpft. Jetzt nur nicht die Kontrolle verlieren! Sie ließ rasch eine andere Note ertönen. Ein ›D‹, das ihr noch besser gelang, weil ihr ganzer Mund bereits erwärmt war. Der Ton drang in alle Gehirne, denn sie legte ihre ganze Seele hinein. Alles war darin enthalten: ihre Kindheit, ihre Sorgen, ihre Begegnung mit Jankelewitsch, ihre Auseinandersetzungen mit der Mutter.
    Donnernder Applaus brach los. Die Schwarzen Ratten zogen es vor, das Weite zu suchen. Julie wußte nicht, ob dieser Beifall dem Aufbruch der Störenfriede oder aber ihrer Note galt, diesem ›D‹, das sie immer noch hielt.
    Als sie endlich verstummte, hatte sie ihre ganze Energie zurückgewonnen. Paul schaltete die bunten Scheinwerfer aus, weil auch er begriffen hatte, daß man zur Einfachheit zurückkehren mußte. Nur ein einzelner weißer Lichtkegel blieb direkt auf Julie gerichtet.
    Sie sprach langsam ins Mikrofon hinein:
    »Die Kunst steht im Dienst der Revolution. Unser nächstes Stück heißt deshalb: DIE REVOLUTION DER AMEISEN.« Mit geschlossenen Augen sang sie:
     
    »Nichts Neues unter der Sonne. Es gibt keine Visionäre mehr. Es gibt keine Erfinder mehr. Wir sind die neuen Visionäre. Wir sind die neuen Erfinder.«
     
    Einige Zuschauer riefen: »Ja!«
    Ji-woong schlug wie ein Wilder auf sein Schlagzeug ein. Zoé tat es ihm am Baß gleich, Narcisse auf der Gitarre. Francine spielte ein Arpeggio nach dem anderen. Paul begriff, daß sie jetzt vom Boden abheben konnten und drehte die Lautstärke voll auf. Der Saal vibrierte. Wenn dieser Start fehlschlug, würden sie es niemals schaffen.
    Julies Lippen berührten fast das Mikrofon:
     
    »Ende, dies ist das Ende.
    Öffnen wir all unsere Sinne.
    Ein neuer Wind bläst an diesem Morgen,
    nichts wird seinen irren Tanz aufhalten können.
    Tausend Metamorphosen werden diese verschlafene Welt aufrütteln.
    Es bedarf keiner Gewalt, um erstarrte Werte zu vernichten.
    Die Überraschung wird groß sein, denn wir realisieren sie: Die ›Revolution der Ameisen‹.«
     
    Sie hob eine Faust und sang den Refrain noch lauter:
     
    » Es gibt keine Visionäre mehr. Wir sind die neuen Visionäre.
    Es gibt keine Erfinder mehr. Wir sind die neuen Erfinder.«
     
    Diesmal klappte alles. Jedes Instrument klang perfekt, und die Tausend-Watt-Verstärker ließen den Saal erbeben. Julies Gesang bahnte sich mühelos einen Weg durch die Trommelfelle in die Gehirne, so daß kein Zuschauer an etwas anderes denken konnte als an diese gewaltige Mädchenstimme.
    Noch nie hatte Julie sich so lebendig gefühlt. Sie vergaß sogar ihre Mutter und das Abitur.
    Ihre Musik riß alle mit. Die Pensionäre in den ersten Reihen brauchten ihre Hörgeräte nicht mehr, klatschten im Rhythmus und klopften den Takt mit den Füßen. Jüngere Zuschauer tanzten sogar auf den Gängen.
    Der Start des Flugzeugs war gelungen. Nun mußte es an Höhe gewinnen.
    Julie gab Paul ein Zeichen, die Lautstärke etwas zu reduzieren, und dann ging sie singend auf das Publikum zu:
     
    »Nichts Neues unter der Sonne. Wir sehen stets dieselbe Welt auf dieselbe Weise.
    Wir sind auf der Wendeltreppe eines Leuchtturms gefangen.
    Wir begehen ständig die gleichen Fehler, doch diesmal von einer höheren Warte aus. Es ist Zeit, die Welt zu verändern. Es ist Zeit, alles ringsum zu verändern. Dies ist kein Ende. Ganz im Gegenteil, es ist ein Anfang.«
     
    Paul wußte, daß ›Anfang‹ das letzte Wort des Liedes war und drückte auf der Schalttafel die Taste ›Feuerwerk‹, worauf es über ihren Köpfen Lichtfunken regnete.
    Das Publikum jubelte.
    David und Léopold flüsterten Julie zu, das Lied zu wiederholen. Ihre Stimme war immer kraftvoller geworden, so daß jeder sich fragte, wie so ein zierliches Persönchen dazu imstande sein konnte.
     
    » Es gibt keine Erfinder mehr. Wir sind die neuen Erfinder.
    Es gibt keine Visionäre mehr …«
     
    Dieser Satz hatte eine verblüffende Wirkung. Wie aus einem Mund antwortete die Menge: »Wir sind die neuen Visionäre!«
    Mit einer solchen Reaktion hatte die

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