Die Richter des Königs (German Edition)
keiner anderen Gelegenheit waren die Taschendiebe fleißiger als an einem Hinrichtungstag, der Unmengen von Menschen anzog und diese auch noch so sehr fesselte, dass man ihnen die Beinkleider hätte stehlen können, ohne dass sie es bemerkten.
Breandán rieb sich die Handgelenke, um sie geschmeidig zu machen, während er sich aufmerksam umsah. Doch an Flucht war nicht zu denken. Die feierliche Prozession wurde von einer stattlichen Reitertruppe angeführt, an deren Spitze der Stadtmarschall und der Untersheriff ritten. Dahinter folgten mit Stäben bewaffnete Konstabler. Den Schluss des Aufmarschs bildete schließlich ein Trupp Lanzenträger. Der letzte Akt des fast religiös anmutenden Rituals der Rechtsprechung hatte begonnen.
Beim Erscheinen der Verurteilten brandete ein Jubel aus Tausenden von Kehlen auf. Wie ein riesiger aufgewühlter Ozean geriet die Menge der Schaulustigen in Bewegung. Ein wahrer Blumenregen ergoss sich über die beiden Karren, und man rief den Gefangenen ermunternde Worte zu. Das unberechenbare gemeine Volk von London hatte wie so oft die Verbrecher zu seinen Helden erkoren. Denn waren diese drei Männer nicht ihresgleichen … so arm und machtlos wie sie! Hatten sie nicht gegen die Obrigkeit rebelliert, die mit gnadenlosen Gesetzen das Gut der Reichen schützte! Selbst den Iren, den Ausländer und Papisten, hatte die Menge ins Herz geschlossen. Die Tatsache, dass er jung und schön war und aus Liebe getötet hatte, rührte die einfachen Menschen. Anders als die gehobene Bürgerschaft von London empfand das selbstbewusste englische Volk, das an diesem Morgen die Straßen füllte, keinerlei Trauer um den gut betuchten Ratsherrn.
Neben Breandán schlug der Ordinarius sein Gebetbuch auf und begann laut zu rezitieren. Doch seine Stimme wurde vom Tumult der Menge verschluckt, als sich die Prozession nun langsam in Bewegung setzte. Die Reiter, die sie anführten, spornten ihre Pferde an, um die Wand aus Menschen zu zerteilen, die ihnen den Weg versperrte. Die Schaulustigen begannen zurückzuweichen und ließen die Pferde passieren. Doch nach wenigen Yards kam der ganze Aufmarsch schon wieder zum Stehen, denn sie hatten die Kirche St. Sepulchre erreicht, den ersten traditionellen Halt auf dem Weg nach Tyburn. Ihre Glocken hatten bereits die ganze Zeit geläutet und wurden nun unterstützt von der Handglocke des Küsters, die dieser auf der Mauer des Kirchhofs schwang.
Den Verurteilten wurde ein Becher Wein gereicht, den die Männer mit einem Schluck leerten. Sie würden unterwegs noch so manche Gelegenheit erhalten, ihre trockenen Kehlen zu befeuchten. So war es seit jeher Sitte. Doch dieser großzügigen Bewirtung lag weniger Barmherzigkeit zugrunde, als die Absicht, ihre Angst vor dem Strang zu betäuben – damit sie sich brav hängen ließen und dem Scharfrichter keinen Widerstand leisteten, der zu dem Zeitpunkt, da sie den Galgen erreichten, gewöhnlich ebenso berauscht war wie die Verurteilten.
Der makabere Aufmarsch bewegte sich nun den Snow Hill hinunter, überquerte die Holborn Bridge, die über den Fleet-Fluss führte, und zog dann den High Holborn hinauf. Immer wieder legte man eine kurze Rast ein, um den Gefangenen Gelegenheit zu geben, mit Freunden zu sprechen und einen Becher Wein oder Ale zu trinken. Breandán bemerkte, dass seine beiden Leidensgenossen bereits sturzbetrunken waren. Der Straßenräuber, dem der besondere Jubel der Menge galt, trug ein eigens für seine Hinrichtung angefertigtes Wams und eine Hose aus feinstem Tuch, während der Einbrecher sich in sein Leichenhemd gekleidet hatte, um dem Scharfrichter, dem die Kleider der Gehängten zustanden, ein Schnippchen zu schlagen.
Der nächste Halt fand im Sprengel St. Giles-in-the-Fields statt. An der Gemeindekirche, deren Glocken läuteten, erhielten die Gefangenen den traditionellen Gnadenbecher, den einst Mathilde, die Gattin von König Henry I., gestiftet hatte. Aber auch der Henker, die Konstabler und die Lanzenträger begannen, kräftig zu bechern. Breandán bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren, doch auch er geriet allmählich unter den Einfluss des Weins. Er dachte an Amoret und spürte, dass seine Augen feucht wurden. Unwillig wischte er sich mit der Handfläche über das Gesicht, um die Tränen zu vertreiben. Eine Stimme rief seinen Namen … eine Stimme mit einem starken irischen Akzent. Kurz darauf sah Breandán Pater Ó Murchú an der Seite des Karrens auftauchen. Er hatte sich mühsam durch die
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