Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
sich dann über Nacht an ihrer Stelle frische Lebensmittel, Seife, Wundheilsalbe und Kerzen einfänden. Manchmal sogar neue Schwerter!
Draußen war es inzwischen stockfinster geworden. Nach und nach leerte sich der Thronsaal, bis wir schließlich nur noch zu fünft waren. Meloman hatte seine Kopfhörer aufgesetzt und stand reglos am Fenster. Ich hätte mir gern seinen Disc-Man ausgeliehen, konnte mich aber nicht aufraffen, ihn darum zu bitten. Meloman war der verschlossenste und schweigsamste von den Jungen hier auf der Insel.
Überall in der Burg waren Kerzenlichter entfacht worden, die eine gespenstische Atmosphäre verbreiteten. Monströse Schatten flackerten auf den rosa Marmorwänden, die Decke über uns versank im Halbdunkel, und in den Fensterscheiben spiegelten sich züngelnd die orangegelben Flammen der Kerzen. Draußen heulte der Wind und rüttelte an den Fensterläden, die gequält ächzten und polternd auf- und zuflogen. Man hätte sich nicht wundern müssen, wenn im nächsten Moment ein Vampir zur Tür hereingekommen wäre.
Timur zog ein zerfleddertes Büchlein hervor, lehnte
sich mit dem Rücken gegen den Tisch, auf dem in einem Blechgefäß eine ganze Batterie dicker Kerzen brannte, und begann zu lesen. Der Lange Igor und der »normale« Igor setzten sich zu einer Partie Schach zusammen. Eine Zeit lang sah ich ihnen dabei zu, wobei mich weniger das Spiel selbst faszinierte als die kunstvoll geschnitzten Schachfiguren, die sie über das Brett schoben.
Dann trat Chris von hinten an mich heran und legte mir den Arm auf die Schulter.
»Gefallen sie dir?«, fragte er.
»Die Schachfiguren? Ja, sehr«, erwiderte ich.
»Die habe ich mitgebracht«, sagte Chris sichtlich stolz. »Alle Sachen hier hatte irgendjemand bei sich, als er auf die Insel kam. Sollen wir eine Partie spielen?«
»Ich bin zu müde«, erwiderte ich beinahe ehrlich. Nur beinahe, da ich zwar tatsächlich müde war, aber durchaus nicht vorhatte zu schlafen.
»Na gut«, gab sich Chris überraschend schnell zufrieden, »ich begleite dich zu deiner Kammer.«
Wir verließen den Thronsaal und schritten durch den Gang, in den durch zahlreiche unverglaste Fensterluken der kalte Wind hereinblies.
»Was heißt ›Es ist sehr kalt‹ auf Englisch?«, fragte ich.
»It’s very cold« , antwortete Chris zerstreut.
Dann blieb er auf einmal stehen, fasste mich mit festem Griff am Handgelenk und musterte mich von oben bis unten mit seinen harten grauen Augen.
»Dimka«, begann er mit eindringlicher Stimme, »du bist ein kluger Junge. Aber sag das nie wieder, was du heute auf der Brücke zu mir gesagt hast. Nie wieder, verstanden!«
»Was habe ich denn gesagt?«, stammelte ich bestürzt.
»Du hast gesagt, dass es unmöglich ist, alle vierzig Inseln zu erobern.«
»Aber …«
»Du hast ja recht!«, unterbrach er mich. »Es ist unmöglich, alle vierzig Inseln zu erobern. Das ist allen klar, wenn es auch nicht alle so schnell begreifen wie du. Aber niemand spricht es laut aus. Man verliert sonst jeden Lebensmut. Verstehst du?«
Ich verstand durchaus. Und darüber hinaus stellte ich fest, dass es für Kummer und Angst offenbar keine Sicherung gibt, anders als für die Fähigkeit, über etwas zu staunen. Egal wie traurig man ist, es geht immer noch schlimmer. Nur ein einziger Lichtblick hinderte mich in diesem Augenblick daran, wie ein kleines Kind loszuheulen. Und dieser Lichtblick hieß Inga.
7
DIE DOPPELGÄNGER
Ein Glück, dass Maljok schon schlief, als ich in die Kammer schlüpfte. Chris hatte entschieden, dass ich mit dem kleinen Jungen zusammenwohnen würde, während Timur, der bisher die Kammer mit ihm geteilt hatte, den Platz von Chris einnahm. Der wiederum war in eine der leer stehenden Kammern im Wachturm umgezogen. Der Kommandeur der Burg des Scharlachroten Schildes auf der Insel Nr. 36 schien ein selbstloser und sensibler Anführer zu sein.
Die Nacht war kühl, eine treu sorgende Seele hatte eine dicke Zudecke auf meinem Bett deponiert. Jedes Geräusch vermeidend, kletterte ich auf die Matratze und legte mich auf den Rücken. Die Decke schob ich vorsichtshalber zur Seite, um nur ja nicht einzuschlafen. Es ging mir durch den Kopf, was mich morgen in aller Frühe erwarten würde: Wache schieben auf irgendeiner Brücke, mit dem Schwert kämpfen und vielleicht sogar töten. Andernfalls würde ich selbst nicht überleben. Tolik hatte mir am Abend noch erzählt, dass einige Jungen, die auf die Insel gekommen waren, es nicht über sich
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