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Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov

Titel: Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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hatte, wollten meine Hände das Seil gar nicht mehr loslassen. Immer noch daran festgekrallt, blickte ich Inga schweigend an.
    »War doch nicht schwierig, oder?«, fragte sie schnippisch.
    »Kinderkram«, gab ich achselzuckend zurück. »Eine meiner leichtesten Übungen. Ist dir nicht kalt?«
    Inga hatte eine dunkelblaue Windjacke an, die ihr zwei Nummern zu groß war.
    »Nein«, entgegnete sie einsilbig.
    Wir brachten beide kein Wort mehr heraus. Verlegen schob ich die Laterne, die ziemlich nahe am Rand der Brücke stand, mit dem Fuß ein Stückchen weiter nach innen und vermied es, Inga in die Augen zu schauen.

    Unser Gespräch kam nur äußerst mühsam in Gang. Wäre an Ingas Stelle ein befreundeter Junge gewesen, hätten wir in dieser Situation sicher herumgefeixt und uns ausgelassen über unseren Coup gefreut. Selbst gegenüber einem anderen Mädchen aus meiner Klasse hätte ich mich ungezwungener verhalten. Begegnungen mit Inga hingegen begannen schon seit einem Jahr stets mit einem hochnotpeinlichen Gewürge, obwohl wir uns schon von Kind auf kannten.
    »Erstaunlich, dass wir zusammen hier gelandet sind«, brach ich endlich das Schweigen.
    »Erstaunlich, dass wir überhaupt hier sind«, verbesserte mich Inga.
    Leichter Groll stieg in mir auf. Sie hätte wenigstens einen Ansatz von Freude darüber zeigen können, dass wir uns getroffen hatten. Stattdessen stand sie verstockt da und starrte in die Luft, als wäre ihr unerträglich langweilig. Ich sah sie herausfordernd an. Da bemerkte ich, dass sie keineswegs ruhig und gleichgültig war. Vielmehr wirkte sie angespannt und deprimiert.
    »Was hast du denn, Inga?«, fragte ich irritiert.
    Endlich sah sie mir in die Augen.
    »Dima, wie steht es bei mir zu Hause? Machen meine Eltern sich große Sorgen?«
    »Ich weiß nicht, ich war schon länger nicht mehr bei euch.«
    »Seit einem ganzen Monat nicht mehr?«
    »Wieso seit einem Monat?«
    Mir kam der Gedanke, dass Ingas Eltern im Fall ihres Verschwindens mit Sicherheit bei meinen Eltern angerufen hätten. Außerdem hätten sie bestimmt auch mich gefragt, ob ich nicht wisse, wo sie steckt.

    »Wieso seit einem Monat?«, wiederholte ich meine Frage. »Wir haben doch vor drei Tagen noch telefoniert. Und bei euch zu Hause war ich zuletzt vergangene Woche, als wir zusammen im Kino waren und ich dich abgeholt habe.«
    »Ich war letzte Woche nicht im Kino«, sagte sie in einem Ton, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. »Ich hatte Küchendienst in unserer Burg.«
    »Und mit wem, bitte schön, war ich dann im Kino?«, fragte ich ironisch.
    »Keine Ahnung«, fauchte Inga. »Tut mir leid für dich, wenn du das selbst nicht mehr weißt.«
    Ratlos stützte ich mich aufs Geländer und starrte grübelnd in die Nacht.
    »Bist du schon lange auf der Insel?«, fragte ich mit versöhnlichem Ton.
    »Einen Monat«, erwiderte sie knapp.
    Langsam dämmerte es mir.
    »Inga«, sagte ich mit fester Stimme, »wir waren vor einer Woche definitiv im Kino. Danach haben wir noch mehrmals telefoniert. Ich bin vor zwei Tagen auf die Insel gekommen.«
    Inga trat neben mich und berührte mit ihren zarten Fingern meine Hand. Ich zuckte zusammen.
    »Dima, sagst du die Wahrheit? Oder willst du nur, dass ich mir keine Sorgen mache?«
    »Wir wurden überhaupt nicht von der Erde entführt, Inga. Man hat uns kopiert!«
    »Dann sind wir also unsere eigenen Doppelgänger?«
    »Genau.«
    Plötzlich setzte Inga ein sanftes Lächeln auf, zum ersten Mal, seitdem wir uns getroffen hatten. Mit einem
Mal machte sie einen fröhlichen, sorglosen Eindruck, als wäre damit nun alles ausgestanden.
    »Das nützt uns doch überhaupt nichts«, sagte ich wütend. »Was haben wir davon, dass unsere Doppelgänger zu Hause sind - wir sind ja trotzdem hier!«
    Inga schaute mich mit großen Augen an.
    »Was heißt hier ›Was haben wir davon‹? Und unsere Eltern? An die denkst du gar nicht, oder?«, fragte sie und durchbohrte mich buchstäblich mit ihrem Blick.
    Ich spürte, wie ich rot wurde. Inga hatte natürlich recht. Wenn unsere Doppelgänger zu Hause geblieben waren, würden sich unsere Eltern keine Sorgen machen, denn sie wussten ja nicht, wo wir hingeraten waren. Trotzdem sträubte sich alles in mir bei dem Gedanken, dass ich nicht ich selbst, sondern nur eine Kopie von mir war. So elend und verloren hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Obwohl - eigentlich war ich vor allem böse auf mich selbst.
    Inga war nun wieder ganz die Alte: In ihr Lächeln mischten sich

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