Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
entgegengesetzte
Winkel des Saals. Sicherheitshalber setzte Timur sich zwischen sie auf den eiskalten Boden und tauschte einen vielsagenden Blick mit Chris. In diesem Moment wurde mir klar, dass niemand anders als diese beiden das Schicksal der Insel in der Hand hielten.
»Wir haben heute vier Kämpfer verloren«, konstatierte Chris.
»Drei!«, widersprach Tolik heftig. »Kostja ist doch noch am Leben - oder hast du ihn schon abgeschrieben?«
»Natürlich nicht, aber er steht uns als Kämpfer vorerst nicht mehr zur Verfügung. Wir haben drei Freunde und vier Kämpfer verloren. Die Lage ist äußerst bedenklich. Noch so ein Gemetzel, dann müssen wir uns in der Burg verbarrikadieren.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, entgegnete Timur entrüstet. »So weit dürfen wir es nicht kommen lassen!«
Ein Raunen ging durch den Saal. Sich in der Burg zu verbarrikadieren und den Feinden die Brücken und die Insel kampflos zu überlassen, galt unter den Teilnehmern des Großen Spiels als die schlimmste Schmach, die man sich einhandeln konnte. Selbst Meloman streifte aufgebracht seinen Kopfhörer ab und schaltete sich in die Diskussion ein. Die Frage war, wie wir die wenigen verbliebenen Kämpfer am besten auf die Brücken verteilen konnten. Schweigend lauschte ich dem Gespräch, ohne mich einzumischen.
»Der kritischste Punkt ist die Ostbrücke«, sagte Chris schließlich. »Es ist gut möglich, dass sie uns dort morgen erneut angreifen. Und selbst wenn sie das nicht tun, wir haben noch eine Rechnung mit denen offen. Morgen werden Timur, Tolik und ich dort Wache halten.«
»Das reicht nicht«, warf Meloman erhitzt ein.
»Weiß ich, aber wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Chris. »Du bewachst mit Maljok und Janusch die Südbrücke.«
»Also gut«, beugte sich Meloman. »Auf Maljok kann man sich verlassen.«
»Ab sofort gibt’s hier keine kleinen Jungen mehr, alle sind erwachsen, verstanden, Maljok?«, sagte Chris zu unserem Jüngsten gewandt.
Maljok, der den ganzen Abend noch kein Wort gesagt hatte, nickte abwesend.
»Die Westbrücke übernehmen Dima und Sershan.« Chris teilte mich für die am wenigsten gefährliche Brücke ein.
»Und was wird aus mir?«, wisperte Ilja beleidigt. »Habt ihr mich vergessen?«
»Du hältst dich auf der Insel bereit und wirst dann auf die Brücke abberufen, auf der es am ärgsten brennt«, beschwichtigte ihn Chris.
Er war wirklich der geborene Kommandeur. Ilja hatte das Gefühl, mit der wichtigsten Aufgabe überhaupt betraut worden zu sein, dabei bestanden Sinn und Zweck dieser Maßnahme einzig darin, ihn nicht in Gefahr zu bringen.
Langsam ließ ich den Blick über die Gesichter der versammelten Jungen schweifen. Für einen Augenblick vergaß ich, dass ich hier mitten im Geschehen war, und betrachtete die Situation wie ein Unbeteiligter, gleichsam von außen: der riesige Saal aus rosa Marmor; die hohen, von Finsternis geschwärzten Fenster, auf denen Rinnsale des vom Sturm gepeitschten Meerwassers mäanderten; die züngelnden Fackeln an den Wänden; das knisternd lodernde Kaminfeuer; darüber der scharlachrote Schild,
das Inselwappen; in der Ecke das zerknitterte Ledersofa in modernem Design - jemand musste sich gemütlich darauf ausgestreckt haben, als er »fotografiert« wurde; und im ganzen Saal verstreut in den verschiedensten Posen - auf Fässern hockend, am Boden kauernd, auf der Lehne des Sofas sitzend, stehend oder auf zusammengestellten Stühlen liegend wie Meloman - neun halb nackte, braun gebrannte, mit hölzernen Schwertern bewaffnete Jungen, darunter ausgewachsene Kerle wie Chris und kleine Buben wie Maljok, die irgendetwas besprachen, über irgendetwas aufgeregt diskutierten.
Die Tür quietschte, und mit einem Schlag kehrte Stille ein. Rita stand in der Tür und war auf der Schwelle erstarrt, als hätte sie Angst einzutreten.
»Kostja ist gestorben«, sagte sie leise.
Niemand sprang auf, keiner sagte ein Wort. Wir hatten alle bereits den ganzen Abend damit gerechnet, dass dies geschehen würde. Das Schweigen war so beklemmend, dass ich es nicht länger ertrug. Wie von Sinnen rannte ich zur Tür, rempelte Rita zur Seite und stürzte in den Gang hinaus, nach links, die Treppe hinunter zur Tür, die ins Freie hinausführte: verschlossen. Planlos lief ich wieder zurück nach oben, schlüpfte in einen engen Durchgang, der in einen stockdunklen gewundenen Korridor führte, in dem keine zwei Leute aneinander vorbeigepasst hätten, und gelangte schließlich an
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