Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
selbst von den Fenstern am Ende des Gangs drang keinerlei Licht herein.
»Wir haben Maljok nicht gefoltert«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu brechen. »Er hat sich vor Angst fast in die Hosen gemacht und alles freiwillig erzählt.«
»Rita und ich haben gesehen, wie Timur ihn eingesperrt hat.«
Inga musste in unmittelbarer Nähe stehen, denn ich spürte ihren Atem auf meiner Wange.
»Rita und ich haben uns lange unterhalten, wir hatten keine Lust, schlafen zu gehen«, flüsterte sie. »Dann ist mir eingefallen, dass ich dir noch etwas sagen wollte. Am Abend hab ich doch erzählt, was Garik über Timur gesagt hat, erinnerst du dich?«
»Ja klar«, erwiderte ich und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Vor Kurzem hat Garik erzählt, dass noch ein Neuer aufgetaucht sei, auch so ein schlimmer Gegner, als ob uns der Samurai mit den zwei Schwertern nicht schon gereicht hätte, hat er gesagt. Damit hat er dich gemeint.«
»Tim ist kein Samurai. Er stammt aus Alma-Ata«, sagte ich und bemerkte, dass meine Ohren zu glühen begannen wie bei Timur am Abend zuvor. Gut, dass man das in der Dunkelheit nicht sehen kann, dachte ich.
»Ich muss jetzt gehen, Rita wartet auf mich.«
Wortlos blieb ich an meiner Tür stehen und lauschte, wie Ingas Schritte allmählich in der Nacht verhallten.
4
HOLZSCHWERTERDIPLOMATIE
Am Nordhügel war ich bisher nur selten gewesen. Zum einen lag er ziemlich weit entfernt von der Burg, und darüber hinaus schien er nichts Bemerkenswertes zu bieten zu haben. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Es stellte sich jedoch heraus, dass das Steilufer des Nordhügels der einzige Ort auf der gesamten Insel war, an dem stets Wellengang herrschte; und das bei jedem Wetter, selbst bei völliger Windstille, zu jeder Tageszeit und vermutlich auch in der Nacht. Letzteres konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, denn nach der schauderhaften Erzählung von Maljok hatte ich beschlossen, nächtliche Ausflüge auf der Insel tunlichst zu unterlassen.
Die Wellen entstanden etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt in dem Bereich, wo das Flachwasser endete. Sobald eine der vom Hügel aus unsichtbaren Schwingungen des Meeresspiegels diese Linie erreichte, kräuselte sich das Wasser zu einem schaumigen Kamm empor. Die neu geborene Welle rollte nun, immer schneller werdend und sich immer höher aufbäumend, auf das Ufer zu, wo sie an der steilen Felswand aufprallte und ihr kurzes Leben aushauchte. Es blieb nur ein dumpf verhallendes Grollen von ihr übrig, das noch für einen Augenblick in der Luft hing, während bereits die nächste Welle ans Ufer geschoben wurde. Früher oder später würde die Brandung den Nordhügel schleifen und schließlich ganz wegspülen. Die Insel wäre dann platt wie eine Flunder,
nur die Burg des Scharlachroten Schildes würde noch aufragen wie ein einsamer Leuchtturm an einem öden Horizont.
Am höchsten Punkt des Hügels, etwa fünf Meter vom abbröckelnden Steilufer entfernt, hatte ich mich bäuchlings auf der Erde ausgestreckt. Das dürre, von der Sonne verbrannte Gras pikste mich in den nackten Bauch. Mein T-Shirt trug ich schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht am Tag, da es in der Hitze ohnehin nur lästig am Körper geklebt hätte. Überhaupt begann ich mich an das Leben auf der Insel zu gewöhnen, obwohl noch keine drei Wochen seit meiner Ankunft vergangen waren. Jetzt hatte ich neue Freunde, neue Gewohnheiten, meine eigene Technik, mit dem Schwert zu kämpfen, einen festen Platz am runden Tisch des Burgrates und, nicht zu vergessen, auch meinen Lieblingsplatz auf der Insel.
Hier herrschte immer vollkommene Stille, abgesehen vom Rauschen des Meeres, das ich jedoch als beruhigend empfand und nicht als Lärm. Hier gab es nichts als jenen grasbewachsenen Hügel, den durchsichtigen, klaren Himmel und den gleichmäßigen Atem des Ozeans. Oder auch des Meeres, wer wusste das schon so genau. Es schien, als sei die Welt rings umher sanft entschlafen, und selbst die Sonne am Himmel war stehen geblieben. Solange ich hier lag und den ewig ans Ufer rollenden Wellen zuschaute, würden auf den Inseln kein Unglück und kein Unrecht geschehen. Die Schwerter würden hölzern bleiben und die Wachhabenden auf den Brücken schläfrig und unbehelligt in der Sonne liegen.
Ich hätte große Lust gehabt, das alles Inga zu erzählen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mich verstehen
würde. In den letzten Tagen hatten wir uns wenigstens nicht gestritten. Das war auch gut so,
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