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Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov

Titel: Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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schluchzend neben mir stand. Nachdem ich ihr einen sanften Schubs in den Rücken versetzt hatte, kam sie wieder zu sich und schritt auf ihre ehemaligen Gefährten von der Nr. 24 zu.
    »Hallo, Jungs!«, rief sie ihnen zu, als wenn nichts gewesen wäre.
    Für mein Gefühl klang es, als ob sie sich über die beiden lustig machen wollte. Aber zu meiner Überraschung reagierten die Jungen keineswegs verärgert.
    »Hallo, Inga«, erwiderte einer der beiden von Timur entwaffneten Jungen kraftlos, doch ohne jeden Gram.
Er war vielleicht dreizehn Jahre alt, und in seinem pausbäckigen Gesicht stak eine winzige Stupsnase. Ihm fehlte nur eine Brille, dann hätte er den perfekten Streber aus einem Kinderfilm abgegeben.
    »Was steht ihr hier dumm herum?«, herrschte Inga sie plötzlich an. »Verbindet gefälligst Mischka!«
    Völlig verdutzt stürzten die beiden zu ihrem Gefährten. Doch Inga schubste sie gleich darauf rüde beiseite und kümmerte sich selbst um den Verwundeten, während ich zu dem über der Balustrade liegenden Jungen hinüberging. Als ich ihn vorsichtig an der Schulter fasste, rutschte sein lebloser Körper, als hätte er nur auf diese Berührung gewartet, wie in Zeitlupe auf der Innenseite die Balustrade hinab. Während sein Rumpf an deren Fuß zu liegen kam, klappte einer seiner Arme durch einen Geländerzwischenraum und begann makaber in Richtung Meer zu winken.
    Mir wurde schlecht. War das wirklich nötig gewesen? Musste der Weg zum Frieden, zum Sieg für alle, unbedingt von Blut getränkt sein? Vom Blut dieses unglückseligen Jungen, dessen Unheil einzig darin bestand, dass er sich ganz genau an die Regeln des Großen Spiels gehalten hatte? Es musste doch auch einen anderen Weg geben. Oder waren wir einfach nicht willens, einen solchen Weg zu suchen? Hatten wir es verlernt, uns auf schmalen Pfaden zu bewegen? Die breiten, ausgetretenen Wege jedenfalls waren überall von Blut besudelt.
    Timur hatte sich in der Zwischenzeit darangemacht, den »Streber« zu verbinden, während Chris sich um den dritten Jungen kümmerte.
    »Nehmt ihr uns jetzt gefangen?«, fragte die Stupsnase mit piepsiger Stimme.

    »Nein, wir lassen euch laufen«, erwiderte Chris großmütig und fügte, mit dem Kopf auf den Toten deutend, ernst hinzu: »Das wollte ich nicht. Aber ihr habt ja gesehen: Ich hatte keine Wahl. Nehmt ihn mit und begrabt ihn auf eurer Insel.«
    Verblüfft zog der Junge den verbundenen Arm an seine Brust. »Ich fürchte nur, wir werden’s nicht schaffen, ihn runterzutragen«, sagte er und deutete auf seinen Verband. »Werft ihn bitte nicht die Brücke hinunter, wir holen ihn später ab.«
    Chris warf mir einen auffordernden Blick zu. Kaum merklich nickte ich.
    »Kein Problem«, sagte Chris mit einem freundlichen Lächeln zu dem Jungen. »Dima und Inga werden euch helfen.«
     
    Es war das erste Mal, dass ich eine Brücke auf der feindlichen Seite hinunterging. Zugegeben, es war ein mulmiges Gefühl, denn jeder Schritt entfernte uns weiter von der Burg des Scharlachroten Schildes. Noch hätten wir die Möglichkeit gehabt, umzukehren. Ich hätte lediglich den auf meinen Schultern hängenden Körper ablegen, Inga an der Hand fassen und kehrtmachen müssen. Die drei Jungen von der Insel Nr. 24 hätten in ihrem jämmerlichen Zustand kaum versucht, uns daran zu hindern. Doch Inga und ich waren gleichermaßen entschlossen, unseren Plan durchzuziehen.
    Aus dem im Rhythmus meiner Schritte baumelnden Körper des toten Jungen liefen mir warme Rinnsale den Rücken hinunter. Erstaunlicherweise empfand ich weder Grauen noch Ekel. Meine Welt war aus den Fugen geraten, alle Maßstäbe waren verschoben. Ich war definitiv
nicht mehr derselbe Dima, der ich auf der Erde gewesen war. Stattdessen war aus mir ein »richtiger« Inselbewohner geworden, der weder den eigenen noch den Tod anderer fürchtete.
    »Alik, was ist mit Genka?«, fragte Inga hinter meinem Rücken.
    Ich hielt den Atem an.
    »Er ist gestorben«, antwortete die Stupsnase ohne den geringsten Anflug von Bedauern in der Stimme.
    Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Inga die Farbe aus dem Gesicht wich und ihre Lippen leicht zu zittern begannen.
    »Mach dir keine Gedanken, Inga«, setzte Alik hinzu. »Es war nicht nur dein Schwertstich, er hat in der Burg noch ein paar Dolche abgekriegt. Die hatte er sich verdient.«
    Ich war ziemlich geschockt. Der Kerl musste ja ein wahres Schreckensregiment auf seiner Insel geführt haben, wenn seine Leute ihn bei der ersten sich

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