Die Ritter des Nordens
Stadt hinaus in Richtung der Sümpfe führten. Doch bevor ich Oswynn endgültig aus den Augen verlor, blickte sie noch ein letztes Mal über die Schulter zurück. Ihre Lippen bewegten sich, und so konnte ich trotz des Lärms von ihrem Mund ablesen, was sie rief:
Tancred.
Und dann war sie verschwunden. Rechts und links rannten Männer an mir vorbei: die letzten Feinde. Einige von ihnen konnten fliehen, die Übrigen wurden von normannischen Klingen niedergemetzelt. Der Jubel ringsum wollte kein Ende mehr nehmen. Beferlic gehörte uns.
Völlig entkräftet sank ich auf die Knie und schloss die Augen. Dann atmete ich tief durch und lauschte dem lauten Pochen meines eigenen Herzens. Der schneidende Ostwind war so kalt, dass ich fröstelte. Hinzu kam der Regen, der jetzt stärker wurde und mir heftig ins Gesicht schlug.
Dann legte mir jemand die Hand auf die Schulter, und als ich die Augen öffnete, sah ich Eudo, der neben mir stand.
»Ich habe sie gesehen«, sagte ich einfach, und noch während ich sprach, konnte ich kaum glauben, was ich da sagte. »Ich habe Oswynn gesehen.«
»Das kann nicht sein«, sagte Eudo. Er sprach ganz leise, was nach all dem Schlachtenlärm in meinen Ohren merkwürdig klang. »Das ist unmöglich. Sie ist tot, schon seit über einem Jahr.«
Genau das hatte ich bisher auch gedacht. Hatte man mir nicht genau das damals in Dunholm gesagt? Und dennoch: Ich hatte doch mit eigenen Augen gesehen, dass es nicht stimmte. Die ganze Zeit hatte ich geglaubt, sie sei einem Mord zum Opfer gefallen. Dabei lebte sie noch.
»Sie war es«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Tancred …«
»Ich weiß doch, was ich gesehen habe.« Ich riss mich von ihm los und stand auf. Nach all den Strapazen war ich dünnhäutig geworden, hatte unwirscher reagiert, als ich eigentlich wollte. Ich war müde, mir taten alle Knochen weh, und ich hatte keine Lust, mich zu streiten.
Meine Frau war also noch am Leben. Aber sie war die Gefangene eines anderen Mannes, und sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte sein Bild nicht mehr aus meinem Kopf verbannen.
Dreißig
•
B eferlic stand in Flammen, und wir ergriffen die Flucht.
Die feindlichen Truppen, die bei den weiter stromaufwärts liegenden Schiffen geblieben waren, segelten jetzt stromabwärts oder marschierten quer durch das Land, um ihren Anführern zu Hilfe zu eilen. Deshalb wollten wir auf gar keinen Fall zwischen dem Ackerland und den Sümpfen in einer halb zerstörten Stadt eingeschlossen sein, die buchstäblich um uns herum zusammenbrach. Also erging der Befehl zum Rückzug. Wir selbst kehrten eilends zu der Scheune zurück, in der Ædda mit den Pferden auf uns wartete. Dann ritten wir im vollen Galopp hinter dem normannischen Kontingent her, das bereits den Rückzug durch das Hügelland angetreten hatte.
Tatsächlich hatten wir die Stadt keinen Augenblick zu früh verlassen. Denn als wir das Hügelland erreichten, drehte ich mich ein letztes Mal um und sah, dass in den qualmenden Ruinen gerade die ersten Truppen der feindlichen Verstärkung eintrafen, mit noch glänzenden, unbenutzten Speeren. Sie fanden dort allerdings nur noch Hunderte ihrer erschlagenen Kameraden vor.
Sven und der Ætheling hatten sich noch mit Mühe und Not in die Sümpfe gerettet. Berengar hatte sie mit seinem Conroi zwar noch eine Weile verfolgt, sich dann jedoch wegen des schwierigen und gefährlichen Geländes gezwungen gesehen, das Vorhaben abzubrechen. Das bedeutete: Eadgar musste sich noch irgendwo dort draußen aufhalten. Ich konnte mich nicht ganz des Gefühls erwehren, dass er nicht entkommen wäre, wenn ich ihn gejagt hätte. Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder und machte mir Vorhaltungen wegen meiner Undankbarkeit. Denn es war genau das geschehen, was ich nicht einmal in meinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte: Berengar war mir zu Hilfe gekommen.
Als sich unsere Wege einige Stunden später kreuzten, fragte ich ihn: »Warum habt Ihr Euer Leben eingesetzt, um mich, meine Freunde und unseren Lehnsherrn zu retten?«
Es war das erste Mal, dass er mich nicht mit einem finsteren Gesicht, sondern mit einem breiten Grinsen ansah.
»Nach Euren Heldentaten letztes Jahr in Eoferwic konnte ich doch nicht zulassen, dass Euch auch hier wieder der ganze Ruhm zufällt«, sagte er. »Als Ihr dann mit neun Männern mitten in die Höhle des Löwen gezogen seid, um Euren Lehnsherrn zu befreien, habe ich mir gedacht, dass dann meine vierhundert Leute eigentlich
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