Die Ritter des Nordens
Sekunden war es ringsum völlig still. Entweder die Leute trauten ihren Ohren nicht, oder aber sie waren sprachlos über so viel Respektlosigkeit. Draußen im Hof prasselte immer noch der Regen herab. Das Reetdach über der großen Halle knirschte und knackte, und durch die Ritzen in den Holzwänden pfiff der Wind. Die Böen draußen waren so stark, dass sich die Wandbehänge bauschten und die Fackeln flackerten.
»Sie angreifen?«, fragte schließlich eine Stimme. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Berengar war, der gerade gesprochen hatte.
»Ja, warum denn nicht?«, fragte ich. »Offenbar sind sie zurzeit noch nicht vollzählig. Deshalb können wir ihnen jetzt leichter Schaden zufügen, als wenn wir abwarten, bis sie uns angreifen.«
»Tancred, jetzt reicht es«, sagte Robert. »Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt …«
Fitz Osbern hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Ich würde gerne hören, was er zu sagen hat. Was sollen wir also Eurer Meinung nach tun?«
Die Frage war an mich gerichtet, doch so weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Gleichzeitig spürte ich, dass sich hundert Augenpaare auf mich richteten und hundert Paar Ohren gespannt auf meine Antwort warteten.
»Los, raus damit!«, sagte jemand, und ich wusste nicht recht, ob der Mann mich ermutigen oder unter Druck setzen wollte.
Dann krähte eine höhnische Stimme: »Ob es ihm die Sprache verschlagen hat?«
Ringsum lautes Gelächter. Unter normalen Umständen hätte ich mir so etwas nicht bieten lassen, doch jetzt widerstand ich der Versuchung, die beiden Männer herauszufordern, denn ihr dummes Geredes kam mir gerade recht, verschaffte es mir doch etwas mehr Zeit zum Nachdenken.
»Ich plädiere dafür, dass wir mit zwei Spitzen vorstoßen«, sagte ich, als das Gelächter ringsum wieder abebbte. Dabei erhob ich die Stimme, damit alle mich verstehen konnten. »Das heißt, wir teilen unsere Streitkräfte in drei Gruppen auf: Der eine Teil bleibt zum Schutz der Stadt hier in Scrobbesburh, die beiden anderen Kontingente dringen auf walisisches Gebiet vor und sorgen nördlich und südlich des feindlichen Feldlagers für Unruhe. Auf diese Weise könnten wir den Feind dazu provozieren, die Schlacht zu suchen, bevor er richtig darauf vorbereitet ist.«
Wieder erhob sich vielstimmiges Gemurmel. Jeder im Raum kannte den Grundsatz, dass nur ein Dummkopf ein schlagkräftiges Heer aufteilt. Tatsächlich war mein Vorschlag ziemlich riskant, da getrennt agierende Kontingente natürlich schwächer und daher leichter zu schlagen sind als ein kompaktes Heer. Aber ich hatte schon viele Schlachten erlebt. Deshalb wusste ich, dass sich dieses Risiko mitunter gerade deswegen als Vorteil erweisen konnte, weil kaum ein Befehlshaber mit dieser Taktik rechnete.
»Soll das ein Witz sein?«, keifte Berengar. »Das ist doch völliger Unsinn.«
Ich sah ihn ratlos an, hatte ich doch geglaubt, dass wir uns in diesem Punkt einig seien. Ein paar von seinen Kumpanen fingen an, zustimmend zu johlen, andere machten sich über mich lustig und nannten mich einen ahnungslosen Schwachkopf, einen dreckigen Hurensohn und so fort, doch ich verstand das meiste gar nicht, was sie sagten.
»Aber so haben wir es doch bei Eoferwic auch gemacht«, schrie ich, um mir Gehör zu verschaffen. »Dort hat uns diese Taktik immerhin den Sieg gebracht.«
Mit ein bisschen Glück konnte ich Fitz Osbern vielleicht mit diesem Argument für mich einnehmen. Schließlich hatte er die zweite – von Erfolg gekrönte – Angriffswelle auf die Stadt selbst angeführt. So war es ihm gelungen, unsere anfänglich verzweifelte Lage noch in einen Sieg zu verwandeln und den Ætheling und dessen Heer vernichtend zu schlagen. Wie es schien, waren viele der Anwesenden damals dabei gewesen. Weiter hinten im Saal fand mein Vorschlag nämlich lautstarke Zustimmung, die sogar noch zunahm, als Wace und Eudo mit in den Jubel einstimmten. Und plötzlich sprangen ringsum alle auf und klatschten entweder frenetisch Beifall oder erhoben wütend Protest. So stand ich inmitten des Aufruhrs und musste lächeln.
Fitz Osbern beriet sich mit dem Wolf, der rechts neben ihm saß, doch ich konnte nicht verstehen, worüber die beiden sprachen. Dann sagte Robert etwas, was die beiden anderen mit einem Nicken quittierten. Ich spähte zu Beatrice, die bislang unbeteiligt auf ihrem Stuhl gesessen und zugehört hatte. Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln, da sie sich offenbar über den Anblick so vieler erwachsener Männer
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