Die Rollbahn
Front!«
»Du warst noch nie draußen?«
»Nein. Immer AvH … Ich habe einen Herzfehler.«
Walter Heinrich sah in das blasse, ängstliche Gesicht des Jungen. Er wird einer der ersten sein, der fällt, durchfuhr es ihn. Er wird vor Angst wimmern und hineinlaufen in die MG-Garben. Er wird die morgige Sonne nicht mehr sehen. Sein Leben kann man nach Stunden berechnen.
»Kann ich etwas für dich tun?« fragte er. »Brich zusammen … werfe die Arme hoch und laß dich fallen. Ich halte dich hier fest. Schon wegen der schönen Nachricht von Elsbeth.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Es hat doch keinen Zweck, Kamerad. Mich haben sieben Ärzte untersucht. Und immer hieß es: Geschossen wird mit der Hand und den Augen. Wir fahren dein krankes Herzchen an die Front. Und da brauchst du nichts anderes zu tun als zu knallen! Selbst das Ziel brauchst du nicht zu suchen … es kommt auf dich zu. Junge, wo hat es das jemals bei der deutschen Armee gegeben … ein Infanterist wird zur Stellung gefahren! – Das haben sie alle gesagt. Herzkrank sind wir alle, schrie mich ein Stabsarzt in Warschau an. Solange Sie Ihre Herzklappe nicht an einem Fädchen hinter sich herschleifen, sind Sie für mich k.v., verstanden?« Er gab Heinrich die Hand und drückte sie schwach. »Leb wohl, Kamerad. Und sei froh, daß deine Lehrerin in Sicherheit ist.«
»Leb wohl, mein Junge. Wie heißt du?«
»Peter Schmeltzer.«
»Auf Wiedersehen, Peter.«
»Auf Wiedersehen, Herr Unteroffizier.«
Schmeltzer rannte dem Zug nach. Der Oberfeldwebel empfing ihn und schnauzte ihn an. Was er sagte, verstand Heinrich nicht. Er wandte sich ab und ging in das Haus zurück.
Ein Glücksgefühl durchzog ihn wie ein heißer Strom. Sie ist gerettet … sie wird den Krieg überleben! Ob wir uns wiedersehen? Ob es wirklich noch ein Zurückkommen für uns gibt, für uns, die wir verraten sind und aufgegeben? Aber was macht es, sie wird weiterleben, sie wird einmal in eine Zeit kommen, die glücklicher ist und freier als die unsere. Sie wird vergessen können … hoffentlich kann sie. Es ist eine der schlechtesten Eigenschaften des Menschen, nicht vergessen zu können, denn nichts lebt zäher als der Haß!
Dr. Wensky hob den Kopf, als Heinrich ins Zimmer trat. Verwundert legte er einen Bericht hin, den er soeben mit der Post vom Oberarzt bekommen hatte.
»Sie lächeln ja, Heinrich!«
»Tat ich das, Herr Stabsarzt? Verzeihung.«
»Aber warum entschuldigen Sie sich? Wenn Sie etwas haben worüber Sie lächeln können, dann pflegen und hegen Sie es! Sie sind ein glücklicher Mensch.« Er warf den Bericht zu Heinrich hin. »Hier, lesen Sie … Der ›Heldenklau‹ kommt auch zu uns. Auskämmen aller Verwundeten, die gehfähig sind! Alle leichten und mittelschweren Verletzungen sind sofort zu melden. Man will den Krieg mit Kranken, Krüppeln und Verbundenen gewinnen.«
»Was werden Sie tun, Herr Stabsarzt?«
»Das, was auch Sie tun würden: Gehorchen!«
»Sie wollen die armen Kerle melden? Sie haben ihre Knochen hingehalten …«
»Heinrich … schon wieder diese Moral!« Dr. Wensky knickte den Bericht wieder zusammen und schob ihn in das Kuvert, mit dem er gekommen war. »Sie müssen mit anderen philosophischen Vorzeichen denken: Wenn wir die Jungs wieder hinausschicken, haben sie ein schnelles Ende mit Schrecken. Was wir erleben werden, wird ein Schrecken ohne Ende sein. Ich weiß nicht, wer mehr zu beneiden ist. Ob heute oder in einer Woche oder in einem Monat … einmal beißen auch wir in die Grasnarbe … Oder können Sie es ändern?«
»Das haben Sie mich schon zehnmal gefragt. Das hat mich der ›schneidige Willi‹ gefragt … das fragen sie alle. Das ist ja eben die Idiotie in unserem Volk: Alle fragen sich gegenseitig: Kannst du es ändern? Sie fragen bloß … wenn alle, ohne zu fragen, zupacken würden, wäre die Antwort da! Mit Fragen kann man nicht Weltpolitik revidieren. Die großen Männer der Geschichte waren entweder Schreier oder Schweiger … das Mittelding ist hirnloser Brei. Man nennt es gemeinhin Volk!«
Drei Tage später wurde Peter Schmeltzer in Nowy Dwor eingeliefert. Lungenschuß.
Hoffnungslos.
Er erlangte die Besinnung nicht wieder und starb Walter Heinrich unter den hilflosen Händen.
»Ich könnte jetzt heulen wie ein Hund«, sagte Heinrich, als er ihm die Augen zudrückte.
»Tun Sie es.« Dr. Wensky hob die schmalen Schultern. »Auch das gehört zur Staatsführung: Hunde, die heulen, beißen nicht …«
Das Deutsche
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