Die Rollbahn
Heimat! Sie aber schlagen sich durch Partisanengebiete durch, kommen nach Nowy Dwor, obwohl Sie wissen, daß wir jeden Tag in den Flanken eingedrückt werden können.« Dr. Wensky setzte sich auf die Kante des zusammenklappbaren Operationstisches. »Mich interessiert das psychologisch: Warum sind Sie gekommen?«
»Ich hatte einen Befehl, Herr Stabsarzt.«
»Hm. Und weiter?«
»Ich dachte an meine verwundeten Kameraden. An der Front wird keiner mehr gebraucht und gesucht als der Arzt.«
Dr. Wensky nickte. »Ein Widersinn, nicht wahr? Da schickt man gesunde Männer los, damit sie totgeschossen werden. Gelingt das nicht und sie werden nur verwundet, muß der Arzt heran, um sie wieder zurechtzuflicken. Wozu? Damit sich die Geheilten wieder totschießen lassen! Wir reparieren Leiber, damit man sie wieder zerstört. Ist das nicht Idiotie?«
»Es ist Krieg.«
»Das dürfte das gleiche sein.« Dr. Wensky sah auf zwei Sanitäter, die die Tür des Operationszimmers öffneten. Früher saß hier der Stadt-Sowjet an seinem Schreibtisch und las die täglichen Posteingänge durch: Schreiben des Bezirks-Sowjets, Tabellen über die Stadt-Kolchosen, Meldungen der Arbeits-Brigaden, Denunziationen lieber Nachbarn … »Was ist?« fragte Dr. Wensky.
»Vier Neueingänge, Herr Stabsarzt.« Die Sanitäter zeigten auf den Gang. Dort standen vier Bahren mit flachen, zugedeckten Gestalten. Lehmgraue Gesichter mit großen, fiebrigen Augen starrten Dr. Wensky an.
»Wieviel Semester haben Sie, Heinrich?«
»Sechs, Herr Stabsarzt.«
»Wunderbar. Dann haben Sie schon feste an Leichen herumgeschnippelt. Arme und Beine abgeschnitten, Nerven freipräpariert, Brustkorb geöffnet, um zu gucken, was eigentlich unter der Haut und den Rippen in dem großen Hohlraum alles versammelt ist.« Er wandte sich an die beiden Sanis, die die vier Bahren in das Zimmer schleppten. »Was haben wir denn da?«
»Einen Magenschuß, ein Oberschenkel, Explosivgeschoß …«
»Sauerei«, sagte Dr. Wensky.
»Ein Lungenschuß und ein Granatsplitter linke Hüfte.«
Dr. Wensky wandte sich an Walter Heinrich, der auf die vier lehmgrauen Gesichter blickte. »Eine schöne Sammlung für einen Chirurgen. Nehmen Sie als Antrittsvorstellung den Oberschenkel.«
Unteroffizier Heinrich fuhr herum. Sein Gesicht war ratlos und verblüfft. »Ich habe noch nie operiert, Herr Stabsarzt.«
Wensky winkte ab. »Sie haben an Leichen gelernt, wie man ein Bein abnimmt. Dieses Wissen brauchen Sie hier nicht einmal auszuwerten. Das hat das Explosivgeschoß schon für Sie getan. Sie brauchen nur die Arterien abzubinden und was da drunter ist abzuschneiden und abzusägen. Hautlappen übern Stumpf – aus! Los, fangen Sie schon an, Heinrich!«
Er wandte sich ab, winkte und ließ sich auf einen Tisch am Fenster den Magenschuß bringen. Der Verwundete stöhnte, als ihn die Sanitäter auf die Tischplatte hoben und die Verbände durchschnitten.
Walter Heinrich ging zu einem Haken, an dem noch ein weißer Mantel hing. Er zog ihn an und krempelte die Ärmel, die ihm zu lang waren, zweimal um. Dann sah er sich um und ging im Zimmer herum. Dr. Wensky schielte zu ihm hin.
»Was suchen Sie?«
»Handschuhe.«
»Sie Wunderknabe! Wir sind ein auf der Flucht befindliches Feldlazarett. Erwarten Sie da noch eine große, elektrische Sterilanlage? Tauchen Sie die Hände dort hinten in die Waschschüssel. Da ist Sublimatlösung drin. Das tut's auch!«
Heinrich legte seine Hände in die kaum den Boden der Schüssel bedeckende Lösung. Dann ließ er sie abtropfen und wandte sich dem Oberschenkel zu, den die beiden Sanitäter auf den OP-Tisch gelegt hatten.
Eine riesige, gräßliche Wunde sah Heinrich an. Zehn Zentimeter unterhalb der Beckenschale war das Explosivgeschoß eingedrungen und hatte den dicken Oberschenkelknochen zersprengt. Ein Haufen von Stoffetzen, Fleisch, Knochen, Blut und Adern war alles, was zwischen Knie und Becken übriggeblieben war.
Die Wundränder waren gerötet und geschwollen … als Heinrich seine Hand auf die Stirn des Verwundeten legte, brauchte er alle Beherrschung, um nicht zurückzuschrecken.
»Er hat hohes Fieber. Wundbrand. Wie lange liegt denn der Mann unversorgt herum?«
Seine Stimme war laut, erregt. Dr. Wensky wandte den Kopf zu ihm hin.
»Keine Regungen, Heinrich! Verlieren Sie nicht schon bei Ihrem ersten Fall die Nerven, wenn Sie auf Schweinereien stoßen. Daran müssen Sie sich gewöhnen: Im Krieg ist der Mensch einen Haufen Dreck wert.« Er zog die Decke
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