Die Rollbahn
über den Mann mit dem Magenschuß und winkte den Sanitätern. »Sehen Sie sich meinen armen Kerl hier an. Wenn er vor drei Tagen zu uns gekommen wäre, hätte ich ihn vielleicht – ich sage vielleicht – retten können. Eine Maschinenpistolengarbe durch den Magen … sechs Schüsse. Keiner war tödlich … man hätte ihn sofort weitergeschleust, und ein Kollege in Deutschland hätte vielleicht sogar eine Magenverkürzung gemacht. So aber lag er vier Tage lang in einem Waldbunker, bis man ihn zu uns bringen konnte. Quer durch Partisanen, die ein wildes Feuer eröffneten, als sie den Wagen mit dem Roten Kreuz sahen. Sie wissen genau, daß diese Wagen nicht bewaffnet sind und schießen sie deshalb mit einer besonderen Wonne ab. Ich nehme an, daß Ihr Oberschenkel auch damit gekommen ist.«
Heinrich nahm Skalpell und Schere von dem kleinen Klapptisch, der neben dem OP-Tisch stand. Ein Sani assistierte … er hielt die Venenklammern bereit und fädelte Catgut in die Nadeln.
»Es ist kein Sterben mehr, es ist ein Verrecken«, sagte Heinrich bitter. Dr. Wensky trat neben ihn und sah auf den grauenhaft zerfetzten Oberschenkel.
»Es ist der Heldentod, mein Lieber!« Er beugte sich über den ohnmächtigen Verwundeten und streckte die Hand aus. »Kommen Sie, ich assistiere Ihnen. Den Lungenschuß brauche ich mir gar nicht anzusehen … er liegt schon in Agonie. Vielleicht können wir den Jungen hier retten, auch wenn er impotent bleiben wird.« Er sah, wie Heinrich in die blutige Masse des zerfetzten Fleisches einschnitt. »Man sollte jeden Politiker, der von der Notwendigkeit des Krieges spricht, erst in ein Kriegslazarett führen.«
Heinrich schwieg. Er durchschnitt die Sehnen und streckte die Hand aus. »Klammer …«
»Bitte. Kneifen Sie den Knochenrest durch.« Dr. Wensky gab ihm die Knochenzange. »Gut so, mein Sohn. Und jetzt schälen wir alles schön ab und suchen einen Lappen, den wir drüberziehen können.«
Hinter ihnen starb der Lungenschuß. Er röchelte laut auf, spie Blut und schlug um sich, ehe er sich ausstreckte. Auch der Magendurchschuß erwachte aus seiner Ohnmacht und stöhnte. »Wasser!« rief er. »Wasser! Hunde – ihr laßt mich verdursten! Ihr gemeinen Kerle! Ihr Lumpen! Gebt mir doch zu trinken.«
Dann weinte er und fiel schluchzend in eine Bewußtlosigkeit.
Dr. Wensky hielt den Stumpf des amputierten Beines fest, während Heinrich den Hautlappen überklappte und vernähte. Er nähte in aufgedunsenes Fleisch hinein, in gerötete Muskeln, in fieberheiße Haut.
»Gut«, sagte Dr. Wensky, als der Amputierte weggetragen wurde. »Sie werden einmal ein guter Arzt, Heinrich. Nur, daß Sie Regungen haben, macht mir Kummer. Ideale und realer Geist sind etwas, was immer Anstoß erregt. Es ist zu erwarten, daß die Menschheit aus diesem Kriege auch nichts lernt. Es wird Politiker geben, die hoch dafür bezahlt werden, einem ausgebluteten Volke wieder einen Wehrgedanken einzubleuen, und es wird Militärs geben, die ebenfalls gegen hohes Gehalt vergessen, was sie heute sehen, und weiter den Totentanz spielen. Sie haben ja nichts anderes gelernt, als Generationen zu dezimieren. Vielleicht hat die Natur sie sogar als biologische Notwendigkeit zwischen uns gestreut, damit die Erde nicht übervölkert wird …«
Unteroffizier Heinrich legte seine Hände wieder in die kleine Schüssel mit der Sublimatlösung. Er schwieg noch immer. Aber in seinem Gehirn kreisten die Worte und dröhnten wie Paukenschläge.
»Was machen Sie denn da?« fragte Dr. Wensky verblüfft.
»Ich will den Granatsplitter behandeln. Von vier Verwundeten wollen wir wenigstens einen retten.«
»Da haben Sie recht«, sagte Dr. Wensky. »Das ist ein vernünftiger Prozentsatz …«
Durch Nowy Dwor rollte neuer Ersatz.
Der ›Heldenklau‹ hatte die rückwärtigen Dörfer und Etappenformationen durchkämmt, er hatte die Lazarette geleert und nichtwichtige Truppenverbände zu Kampfgruppen umgebildet. Wer vorher als AvH-Mann eine geruhsame Wache an einem Munitions- oder Verpflegungsdepot ging oder als Schreiber in einer Ortskommandantur saß, eine herrliche, ruhige Kugel schob und die Madkas in den prallen Hintern kniff, sah sich plötzlich mit Stahlhelm, Tarnzeug und einem MG in den Händen irgendwo im Dreck liegen und auf einen Wald von Panzern schießen. Eine feuerspeiende Wand, die unaufhaltsam vorwärtsrückte und alles niederwalzte, was sich ihr in den Weg stellte.
Seit dem Fall von Minsk und dem schnellen Vordringen Marschall
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