Die Rollbahn
Berlin. Selbstmord von Gen.-Oberst Beck und mißglückter Selbstmord General von Stülpnagels in Paris, den man schwer verletzt und erblindet verhaftete.
Sofortige Auskämmung aller adligen Offiziere aus allen Stäben und Schlüsselstellungen. Verhaftung aller Familienangehörigen der beteiligten Offiziere.
Überall Erschießungen, Entlassungen, Verhaftungen. Himmlers schwarze Schergen wüteten wie entfesselte Bestien. In Berlin schrie Goebbels über den Äther in alle Welt: Nie ist die göttliche Sendung des Führers mehr offenbar geworden als durch diese wunderbare Rettung!
»Sie waten in Blut, Bennewitz«, sagte der General. Er saß zurückgelehnt in einem alten Sessel und hörte mit geschlossenen Augen die Funkmeldungen an. Seine Lider waren blau und eingesunken, das Gesicht faltig geworden und fahlgelb. Es war das Gesicht eines Greises, der auf dem Totenbett liegt. »Wann werden sie zu uns kommen …?«
»Zu uns, Herr General? Was haben wir damit zu tun? Wir sind Fronttruppe.«
»Auch Rommel war dabei. Stülpnagel. Busch verhielt sich neutral, aber er sympathisierte mit Witzleben und Goerdeler. Viele, viele waren innerlich dabei, Bennewitz … Auch ich!«
»Sie sind 1.000 km von der Wolfsschanze entfernt!«
»Aber mein Name steht in den Listen. Ich sollte die Heeresgruppe Mitte übernehmen und sie zurückführen bis zur Grenze. Ich sollte einen Raum schaffen, um mit den Russen zu verhandeln. Ich sollte …« Er legte die Hände über seine Augen. »Ach, Bennewitz … ich sollte soviel. Jetzt ist es vorbei. Jetzt werden sie kommen. Wir haben versagt.«
Oberst von Bennewitz erhob sich ruckartig. Wie ein dunkler Baum ragte er vor dem sitzenden General in den halbdunklen Raum hinein. »Der Stab steht hinter Ihnen, Herr General. Die ganze Armee! Wir werden Sie mit der Waffe in der Hand verteidigen. Es wird keiner in dieses Haus kommen.«
Der General schüttelte müde den Kopf. »Utopien, Bennewitz. Heldische Wahnbilder. Warum sollten Sie sich und alle anderen Männer in Gefahr bringen wegen eines alten Mannes, der auf eine Karte setzte, von der er glaubte, sie sei ein Trumpf? Wir haben falsch gespielt … jetzt müssen wir zahlen. Das ist alles. Es ist wie beim 17 und 4 … die andere Seite hat die 21er-Karte …«
Er erhob sich und trat an das Fenster. Langsam schob er den Sack zur Seite und blickte hinaus in den dunklen Hof. Ordonnanzen jagten herum … im Zimmer des Nachrichtenoffiziers brannte helles Licht. Die Ia- und IIb-Abteilungen arbeiteten wie immer Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, ohne Müdigkeit. Der Krieg ging ja weiter … er blieb nicht stehen, weil eine Bombe die falsche Wirkung zeigte.
»Spätestens in zehn Stunden sind sie hier«, sagte der General. Von Bennewitz zog wie fröstelnd die Schultern hoch.
»Was werden Sie tun, Herr General?«
»Darf ich ganz dumm fragen, was Sie tun würden?«
»Ich weiß nicht, wie stark Sie exponiert sind, Herr General.«
»Sehr stark. Sehr stark, Bennewitz. Ich habe für diesen Tag gelebt, an dem Stauffenberg die Bombe legte.«
»Ich würde versuchen, abzuschwächen. Man braucht Sie, Herr General. Der Rückzug ist in vollem Gange … man kann den Truppen nicht die Köpfe entziehen.«
»Es wachsen immer genug nach, mein Lieber. Es war in Deutschland immer so, daß das Elend des einen der willkommene Aufstieg des wartenden anderen war.«
»Sie werden sich stellen?« Oberst von Bennewitz spürte, wie trotz der kühlen Nacht Schweiß auf seine Stirn trat. Er biß die Zähne aufeinander und verkrampfte die Hände auf dem Rücken. »Wir werden es nicht zulassen, Herr General. Ich wiederhole es in aller und endgültiger Form: Wir werden jeden erschießen, der sich Ihnen nähert.«
»Denken Sie an Ihre Kinder. Sie haben vier kleine Kinder, Bennewitz!«
»Haben Sie an Ihre Kinder gedacht, Herr General?«
»Sie sind groß. Sie sind verheiratet und haben selber Kinder. Sie kommen ohne mich aus. Sie haben ihre eigene Welt gegründet, in der ich nur ein Gast bin.«
»Aber sie bleiben doch die Kinder! Und Sie bleiben der Vater! Ein Kreis hat kein Ende, Herr General … und jede Familie ist ein Kreis!«
»Warum haben Sie statt Strategie nicht Philosophie studiert, Bennewitz.« Der General lächelte schwach. Er raffte sich zu diesem Lächeln auf, weil er sah, wie Bennewitz' Backenmuskeln zuckten. »Sie hätten einen wunderbaren Moraltheoretiker abgegeben.« Er reichte plötzlich abrupt die Hand hin, streckte sie vor, Bennewitz gerade unter die Augen.
Weitere Kostenlose Bücher