Die Rollbahn
Rokossowskis auf die polnische Grenze, seit der überstürzten Flucht der ›Goldfasanen‹, wie man die politischen Leiter nannte, die als Ortsgruppen- oder Kreisleiter bereits in den eroberten Gebieten gesessen hatten und den Muschik zum Nationalsozialisten erziehen sollten, war das Gespenst des ›Heldenklaus‹ der Grund schlafloser Nächte in allen rückwärtigen Gebieten.
Die Offiziersschicht trug es mit Würde. Kommandieren ist immer noch besser als gehorchen … aber das Unterführerkorps und die Landser, die sich auf Druckposten wohler als zu Hause im Luftschutzbunker fühlten, gerieten durcheinander wie ein Hühnerhof, in den ein Fuchs eingebrochen war.
Die Reviere und Lazarette füllten sich mit Magenkranken, Herz- und Kreislaufstörungen, Tbc, Nervenleiden und Gallenschmerzen. Noch nie gab es in einer Armee so viele kranke Soldaten wie zu jener Zeit, in der der ›Heldenklau‹ von Stube zu Stube ging und auskämmte.
Der Krieg braucht Helden. Der Krieg braucht Kanonenfutter. Der Krieg braucht Leiber, die die Flut aus dem Osten aufhalten. Der Krieg braucht Tote!
Die ersten Panzerspitzen fuhren am Ufer des Njemens entlang. Auf deutsch heißt dieser Fluß: Die Memel!
Wie heißt es in der deutschen Nationalhymne: Von der Maas bis an die Memel …
Und an der Memel standen russische Panzer und beschossen die deutschen Stellungen jenseits des Flusses mit Brandgranaten. Die Stalinorgeln heulten über den Strom und zerrissen die Leiber blasser, junger Menschen oder alter, verhärmter Männer, die als ›Ersatz‹ in den schnell aufgeworfenen Gräben lagen und denen man sagte: Jetzt geht es um eure Heimat! Um eure Frauen und Kinder! Um eure Häuser, um euer Vieh, um euer ureigenstes Leben! Haltet die Sowjets auf! Haltet! Haltet!
Auch durch Nowy Dwor marschierte jetzt der Ersatz, die Ausgekämmten aus den Schreibstuben und Verpflegungslagern, aus den Ecken der Lazarette und bisher sicheren Kleiderkammern.
Sanitätsunteroffizier Heinrich stand vor dem Lazarettbau und sah dem Zug nach, der unlustig, müde und mit hängenden Köpfen an ihm vorbeimarschiert war und nun außerhalb Nowy Dwors auf LKWs verladen werden sollte.
Ein Obergefreiter war stehengeblieben. Er sah zu Heinrich hinüber, unschlüssig, zögernd. Dann kam er auf ihn zu und grüßte.
»Verzeihung, Kamerad«, sagte er. »Warst du nicht vor einigen Wochen in Sczynno?«
»Ja.«
»Welche Pflaume bleibt da zurück?« schrie der Oberfeldwebel, der den Zug befehligte. Walter Heinrich winkte ihm zu.
»Einen Augenblick!« rief er zurück. »Der Mann kommt gleich.«
»Sollen wir den Krieg solange abblasen?« schrie der Oberfeldwebel zurück. »Die LKWs warten!«
»Nur eine Sekunde!« Heinrich sah den jungen Mann an. Kaum 20 Jahre, dachte er. Und er nennt Sczynno. »Kennst du denn Sczynno?«
»Ich lag in der Baracke III. Flecktyphus. Ich habe dich oft gesehen. Bei der Chirurgischen. Auch abends … Du hast mit der kleinen Lehrerin aus Nasielsk poussiert. Wir haben dich alle beneidet. Ein rassiges Weib, die Kleine.«
»Wir wollen heiraten«, sagte Heinrich steif. Aber dann lächelte er. Natürlich. Die Jungen. Sie haben ja nichts anderes gehört von den alten Säcken. Karbolmäuschen nennen sie die Schwestern, Offizierswärmer die Nachrichtenhelferinnen … für sie ist eine Frau zum Objekt geworden, zum Thema 1, wie es der Landser nennt.
»Deine Braut ist weg aus Nasielsk.«
»Was?« Heinrich zog den jungen Landser an den Uniformaufschlägen zu sich heran. »Sag das noch einmal. Sie ist weg?«
»Als Minsk fiel, ist sie abgehauen. Unser Oberstabsarzt hat ihr geholfen! Er hat dafür vom Oberstarzt eine dicke Zigarre bekommen. Und der Ortsgruppenleiter, du kennst ihn ja, den Dicken mit dem Pferdegebiß, hat eine Meldung gemacht wegen Wehrkraftzersetzung.«
»Sauhund!«
»Aber der Oberstabsarzt ist aus der Schlinge herausgekommen. Nur strafversetzt ist er … als Truppenarzt nach Kowno.«
Walter Heinrich atmete schneller. Elsbeth ist weg. Dr. Seidel hat sein Wort eingelöst … er hat sie weggeschafft in die Heimat. Sie wird den Krieg überleben. Er legte den Arm um die Schulter des Jungen.
»Ich danke dir.«
»Du freust dich?«
»Es ist die beste Nachricht, die ich je erhalten habe.«
Der Junge sah zu dem Zug hin, der an den LKWs stand und verladen wurde. Man hörte den Oberfeldwebel wieder brüllen. Von fern, dort, wo die Front liegen mußte, lag ein dumpfes Grollen wie weiter Donner in den Wolken.
»Ist es schlimm?«
»Was?«
»An der
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