Die Rollbahn
leise.
»Ich werde hier bleiben, bis der Russe kommt.«
»Und dann?«
»Wenn mich keine Truppe mitnimmt, werde ich mich erschießen.« Sie griff in die Tasche und zeigte Heinrich einen kleinen Revolver.
»Das darfst du nicht tun, Elsbeth«, sagte er erschüttert.
»Was bleibt mir anderes übrig? Ich will den russischen Sturm nicht überleben. Weißt du, was sie mit mir machen …?«
Er nickte. Er dachte an die Bilder von zurückeroberten Dörfern. Er dachte an die Ukrainemädchen, die auf der Dorfstraße neben den Hütten lagen, mit aufgeschlitzten Unterleibern und abgeschnittenen Brüsten. Er dachte an die Hiwis, die in sowjetische Hände gefallen waren … mit ausgestochenen Augen und entmannt krochen sie schreiend durch den Staub der Dorfstraßen.
»Ich bringe dich weg«, sagte er laut.
»Wohin denn?«
»Irgendwohin! Nur weg aus der Frontnähe. Die Panzerspitzen können in zwei Tagen hier sein!«
»Und du? Du kannst doch nicht einfach weg! Du mußt doch zur Truppe zurück!«
»Ich desertiere!«
»Walter!« Sie drückte das Gesicht ängstlich an seine Brust. »Das darfst du nicht tun! Das darfst du nicht. Nicht meinetwegen! Überall stehen die Kettenhunde, überall wird man dich finden und dich einfach erschießen! Es gibt jetzt einen Befehl, der jeden Fahnenflüchtigen sofort zum Tode verurteilt! Jeder Truppenführer hat das Recht, Erschießungen vorzunehmen! Wir würden nicht weit kommen … und was wird dann aus mir, wenn du erschossen wirst?«
»Wir werden durchkommen! Und wenn ich durchbreche mit der Waffe in der Hand.«
»Das ist doch Dummheit, Walter.« Sie schüttelte den Kopf und löste sich aus seiner Umarmung. Ihr Blick fiel auf die Pakete, auf die Kartonstapel und Kisten im rückwärtigen Wagen. »Was hast du da?«
»Das ist nicht so wichtig! Nichts ist wichtiger auf dieser Welt als dein Leben. Nichts ist eiliger als dein Wegkommen!«
»Es ist Verbandzeug! Es sind Medikamente.«
»Hast du deine Sachen gepackt? Wir fahren sofort weiter!«
»Du bist geschickt worden, um Lazarettmaterial zu holen. Sie warten auf dich! Du darfst sie nicht warten lassen.«
»Wo hast du deine Sachen?«
»Irgendwo.«
»Du sagst es nicht?«
»Nein!«
»Dann fahren wir so!« Er riß sie in den Wagen hinein. Sie sträubte sich, aber er ließ den Anlasser an, und der Motor heulte auf.
»Walter!« schrie sie. »Sei doch vernünftig! Du bist ja irr! Wir kommen nie durch … und draußen an der Front warten die Verwundeten auf dich! An dir hängt ihr Leben … Was ist dir denn mehr wert: Hundert Männer … Söhne hoffender Mütter, Väter unschuldiger Kinder … Männer liebender Frauen … Hundert Menschen … oder ich?«
»Du!«
»Walter!«
Sie griff in sein Steuerrad. Sie wären gegen eine Hauswand gefahren, wenn er nicht gebremst hätte. Quer zur Straße stand der Wagen. Aus einem Friseurgeschäft sah ein erstauntes Gesicht. Pawlek Staniswortsky. Er rasierte die deutschen Offiziere und war der Leiter der Nasielsker Untergrundbewegung.
»Du kannst doch nicht hierbleiben!« schrie Heinrich.
»Und du kannst deine Verwundeten nicht einfach verlassen! Ich werde schon eine Möglichkeit finden … aber die armen Kerle haben diese Möglichkeit nicht. Sie sterben, wenn du nicht kommst.«
Walter Heinrich senkte den Kopf. Plötzlich schluchzte er auf und legte das Gesicht auf die Schulter Elsbeths.
»O wie gemein, wie gemein ist dieser Krieg!«
»Sei glücklich, daß wir uns noch einmal gesehen haben. Wer von all den Millionen, die gefallen sind und noch fallen werden, hat dieses Glück? Wir sind Auserwählte des Schicksals. Und wir wollen deshalb auch stark genug sein …«
»Das sind doch Reden! Dumme, heroische Reden! Die Wirklichkeit ist anders. Du siehst es doch: Die sowjetischen Panzer rollen heran. Wenn du nachts hinhörst, kannst du schon die Front grollen hören. Wir haben doch keine Zukunft mehr … jetzt nicht mehr! Dann laß uns doch wenigstens die Gegenwart genießen und zusammen untergehen.«
»Und deine Kameraden? Dort hinten in deinem Wagen liegt das Leben! Du kannst dich doch nicht mit dem Leben in der Hand einfach wegstehlen! Das wäre gemein, Walter … Ich würde dich verachten!«
»Elsbeth!«
»Ja, ich würde es! Du mußt gehen …« Sie streichelte zärtlich über sein zuckendes, schmales, staubiges Gesicht. »Es war so schön, dich noch einmal zu sehen. Wir wollen das nie vergessen.«
»Woher hast du nur die Kraft, das zu sagen?« stammelte er.
»Hat es jetzt Sinn, zu klagen? Wir
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