Die Rollbahn
Mittag, als Walter Heinrich wieder aus Sczynno herausfuhr. Er hatte den Wagen vollgeladen. Was er hinter seinem Sitz gestapelt hatte, bedeutete das Leben von vielen Kameraden. Sogar zwanzig Kartons mit Damenbinden aus den Beständen der zurückgeschafften Nachrichtenhelferinnen hatte er mitgenommen. Die dicken Zellstoffpacken eigneten sich wunderbar für das Aufsaugen stark blutender Fleischwunden. Selbst tamponieren konnte man mit ihnen … alles, was Wunden verschloß, war wertvoll.
Er fuhr einen kleinen Bogen und wollte Nasielsk, das am Rückweg lag, durchrasen, als er auf dem Marktplatz plötzlich stoppte.
Im Gegensatz zu Sczynno war Nasielsk fast leer von Menschen. In der Schule, in den Klassenzimmern, in denen einmal Elsbeth unterrichtet hatte und die Kinder deutsche Volkslieder sangen, lag eine ungarische Kompanie. Ein deutscher Feldwebel exerzierte auf dem Schulhof mit einem Zug und schrie halb deutsch und halb ungarisch seine Befehle. Im Hotel ›Deutsches Haus‹ lag ein Stab. Wenige Polen gingen durch die Straßen … zwei Frauen fegten vor einem Haus die Straße. Aus dem Haus hing die deutsche Kriegsflagge. Ein Hohn auf die Lage, in der sich Nasielsk befand.
Auf der Straße aber, auf dem Marktplatz, mit einem verblichenen Kopftuch, allein, so, als habe man sie ausgesetzt und sie wisse nicht, wohin die Wege um sie herum führen, stand eine junge Frau und sah den beiden kehrenden Polinnen zu.
Walter Heinrich hielt seinen Wagen an. Ein irrsinniges, ein heißes, ein unglaubliches, ein schmerzliches, ein den Kopf fast zersprengendes Gefühl durchjagte ihn wie ein Fieberschauer. Er blieb hinter dem Steuerrad sitzen und umklammerte es. Er wollte etwas sagen, aber er hatte keinen Ton mehr in der Kehle. Die Stimmbänder waren gelähmt, das Entsetzen zerbrach den Kehlkopf … überall waren Leere, Rauheit, Tonlosigkeit … in der Kehle, im Gehirn, in der Brust, um ihn herum.
Die junge Frau drehte sich herum. Unter braunbronzenen Haaren schob sich ein fahles, ratloses Gesicht durch das Kopftuch. Große Augen … schmale, rote Lippen …
In Walter Heinrich zerbrach etwas. Er hörte es deutlich. Es war, als zerplatze sein Herz. Und plötzlich konnte er schreien. Und er schrie … laut, grell, unmenschlich.
»Elsbeth! Elsbeth!«
Das Mädchen fuhr herum. Es stand starr auf dem Marktplatz; dann begann es zu laufen, es lief immer schneller, es stürzte vorwärts, es warf die Arme nach vorn, als könnten sie die Strecke überbrücken, die noch zu laufen war.
»Walter!« schrie es. »Walter! Walter!«
Dann war es am Wagen … es warf die Arme um den Hals Heinrichs und sank weinend an seiner Brust zusammen.
»Du bist da … du lebst … du lebst … o du lebst«, wiederholte Elsbeth immer wieder. »Du lebst … lebst … lebst …«
»Was machst du hier?« stammelte Heinrich. Er spürte wieder das Würgen in seiner Kehle. Das Grauen schlich wieder in ihm empor. »Du solltest doch in der Heimat sein.«
»Da war ich …«
»Da … warst … du …?«
Sie nickte. Sie drückte sich an seine Brust und streichelte seine schmutzige Uniform. »Daß ich dich wiedersehe … daß du da bist … Es ist wie ein Wunder …«
»Warum bist du zurückgekommen?« stöhnte Heinrich. Er umfaßte die zuckende Schulter Elsbeths und preßte sie an sich. Ich laß dich nie wieder los, durchrann es ihn. Nie! Nie! Jetzt bleiben wir zusammen, und wenn die Welt um uns herum untergeht! Arm in Arm gehen wir mit ihr unter! Es trennt uns keiner mehr … kein Krieg, kein Befehl, kein Führer, kein Gewissen, keine Moral. Nichts, nichts trennt uns mehr!
»Ich mußte es, Walter.«
»Du mußtest?«
»Kaum war ich zu Hause, bekam ich ein Telegramm des Regierungspräsidenten aus Zichenau: ›Sofortiger Dienstantritt in Nasielsk. Die Volkstumsarbeit ist jetzt wichtiger als je!‹ Da bin ich wieder zurückgefahren. Später wurde ich strafversetzt nach Serok. Das ist ein erbärmliches Nest. Als ich ankam, waren alle Kinder schon evakuiert … alles war fort, nur ich blieb zurück. Da bin ich wieder nach Nasielsk.« Sie umklammerte Heinrich und zitterte. »Man hat mich zurückgeholt in die Hölle und jetzt vergessen …«
»O diese Schweine! Diese Mörder! Diese Mörder!« Heinrich ballte die Fäuste. Er schob den Kopf Elsbeths zurück.
Er sah in ihre tränennassen Augen, die ihren grünen schillernden Glanz verloren hatten. Sie waren stumpf, wie gestorben, durchdrungen von der großen Hoffnungslosigkeit. »Was soll nun werden?« fragte er
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