Die Rollbahn
Genie.«
»Jawoll.« Hellmer biß sich auf die Zunge. Kunze nestelte aus seiner Brusttasche einen Zettel und entfaltete ihn. Mit langsamer Stimme las er die Worte vor, die er notiert hatte. Es machte ihm Schwierigkeiten, aber er schaffte es.
»Mens sano –«
»– sana –«, sagte Hellmer vorsichtig.
»Schnauze! – Mens sano in corpus –«
»– corpore –«
Kunze ließ den Zettel sinken. »Sie kennen das, Hellmer?«
»Jawoll. Das sagte Juvenal.«
»Blödsinn! Das sagte Leutnant Vogel!«
Oberschütze Hellmer sah wieder an die Holzdecke der Hütte. »Juvenal lebte 100 n. Christi Geburt in Rom und schilderte in seinen Satiren die Sittenlosigkeit der römischen Gesellschaft.«
Hauptfeldwebel Kunze warf den Zettel auf den Tisch und musterte Hellmer mit verkniffenen Augen.
»Bei Ihnen ist wohl 'ne Schraube locker, was?« sagte er leise. Er stieß den dicken Kopf vor und war so nahe vor Hellmer, daß dieser den Atem Kunzes über sein Gesicht gleiten fühlte. »Was geht mich der römische Dichter an? Was fällt Ihnen überhaupt ein, hier solchen Bockmist zu reden? Ich will wissen, was Leutnant Vogel sagte –«
»Einen Ausspruch von Juvenal.«
»Himmel, Arsch und Zwirn! Zehn Kniebeugen, Hellmer! Hopp-hopp!«
Der Oberschütze und Abiturient Hellmer ging zehnmal in die Knie und zählte seine Übungen mit. Dann stand er wieder stramm und schaute auf den schwitzenden Kunze.
»Klarer im Gehirn? Also – übersetzen Sie!«
»Im gesunden Leib wohne ein gesunder Geist!«
Zwei Stunden lang wurde Oberschütze Hellmer nach allen Regeln preußischer Militärtradition durch Dubrassna gejagt. An Oberleutnant Faber gab Kunze dann mit den nächtlichen Essenträgern folgende Meldung durch:
»Ich beantrage gegen den Oberschützen Hellmer einen Tatbericht wegen Beleidigung von Vorgesetzten. Bekannt, daß ich an Ischias leide, erfrechte er sich, mir zu sagen (wörtliches Protokoll, von Hellmer unterschrieben): ›In einem gesunden Körper wohne ein gesunder Geist!‹ Ich bitte um Befehl zur Ausführung des Berichtes. Hellmer ist in Dubrassna inhaftiert worden. Kunze, Hauptfeldwebel.«
Oberleutnant Faber kam in dieser Nacht selbst zurück nach Dubrassna, holte Hellmer aus seinem Stall, der als Gefängnis diente, heraus und hatte dann mit Kunze unter vier Augen eine Aussprache. Versonnen sah man am nächsten Tag Kunze vor der Schreibstube in der Sonne sitzen und vor sich hinstarren.
Dieser Leutnant Vogel, dachte er verbittert. Dieser sadistische Bursche! Ich bin Stallbursche gewesen. Im Tattersall von Berlin! Wie kann ich Juvenal kennen? Um die Rekruten über den Kasernenhof zu jagen und ihnen das Wasser im Hintern kochen zu lassen, brauche ich keinen mens sana. Die ganzen Schulungsstunden sind Mist.
Mit verschlossenem Gesicht folgte Kunze Leutnant Vogel in die Schreibstubenhütte. Allgemeinplätze, dachte er. Ein saudummes Wort. Wenn man alle Offiziere aus den Zwölfendern nähme, käme so etwas nicht vor –
Die russische Artillerie tastete weiter das Gelände ab. Sie hämmerte in das Graben- und Bunkersystem der HKL und jagte die 5. Kompanie, die an den Grabenwänden hockte und sich sonnte, in Deckung. Oberleutnant Faber schüttelte den Kopf.
Artillerie. Aber gegenüber … kaum 100 Meter weit … rührte sich nichts. Am Tage nicht … in der Nacht nicht. Es war, als wenn die Sommersonne die russischen Stellungen aufgesogen hätte. Nur wenn man an einem Stock einen Stahlhelm ein wenig über den Grabenrand hielt, schoß ein einsames Gewehr … es machte pitsch, der Helm wackelte und hatte ein Loch genau dort, wo normalerweise das Vorderhirn sitzt.
»Scharfschützen«, sagte Oberleutnant Faber anerkennend. »Sibirische Scharfschützen. Die schießen eine Mücke von einem Stecknadelkopf.«
Dann schwieg die Front wieder, ein gefährliches Schweigen. Man wußte es nicht nur bei der 5. Kompanie oder beim 2. Bataillon. Die Division in Orscha horchte nach vorn, das Armeekorps, die Armee.
Der Russe schwieg. Bei bestem Offensivwetter, bei strahlender Sonne, bei einem hartgebackenen Boden, über den die Panzer rollen konnten wie auf einer Betonstraße, war es, als ob der Krieg vergessen habe, daß er Menschen schlachten sollte.
Man wurde nervös an der Front. Die Aufklärer sahen nichts, die Spähtrupps wurden lahm beschossen und kamen ohne Ergebnisse zurück. Es gab keine Gefangenen, die man ausquetschen konnte, es gab keine Anhaltspunkte. Die deutsche Spionage versagte völlig. Sogar die Partisanen zogen sich
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