Die Rollbahn
bekommt es fertig, auf einen Mann mit einer ganzen Batterie zu schießen! Wir müssen – wenn Sie schon nach Dubrassna wollen – neben der Straße herkriechen.«
»Kriechen? Ich bin doch kein Lurch!«
»Sind Herr Leutnant lebensmüde?«
Vogel antwortete auf diese Frage nicht. Es war unter seiner Würde, sich mit einem dummen Gefreiten in eine Diskussion über Heldentum einzulassen. Er empfand es nur als eine tiefe Schande, daß es möglich war, einige Kilometer deutscher Stellungen einzusehen, und es anscheinend bei dem lahmarschigen Betrieb an der Front keine Möglichkeit gab, diesen Schandfleck des 2. Bataillons wegzuwischen.
Hauptfeldwebel Kunze kroch staubbedeckt und verstört aus seinem Schutzgraben und wankte hinüber zur Schreibstube, als Leutnant Vogel in Dubrassna einmarschierte. Nach Überwindung der Gefahrenzone, auf dem Bauche kriechend und durch den Staub robbend, war er aufgesprungen und dem Dorfe zugeeilt. Er traf dort ein, als die letzten Einschläge im Sommerhimmel verklangen und die letzte Erdfontäne prasselnd auf das schiefhängende Dach der Küchenscheune krachte.
Kunze meldete. Auf Socken, im Unterhemd, mit herabhängenden Hosenträgern, bleich und dreckverschmiert. In seinen Augen lag noch die Angst … sie durchzitterte noch seinen Körper und fuhr bis in die Fingerspitzen, die zu jucken begannen und die er an seiner Hose verstohlen wetzte.
Vogel musterte Kunze mit erstaunter Miene. »Nanu?« sagte er forsch. »Haben wir Sie gerade auf dem Donnerbalken gestört?«
Hauptfeldwebel Kunze schluckte. »Ich war dabei, mich zu waschen, als der Gegner –«
Leutnant Vogel winkte ab. Kunze schwieg. Er hatte bewußt Gegner gesagt, eingedenk eines Ausspruches Vogels, daß es für den deutschen Soldaten keine feindlichen Nationen wie Franzosen, Russen, Engländer oder Polen gäbe, sondern nur Gegner. Ein Sammelbegriff, der für den aufrechten Deutschen nichts anderes bedeuten sollte als: Vernichten!
Von der Scheune kam Feldwebel Müller III. Er trug den von einem Granatsplitter zerfetzten großen hölzernen Kochlöffel in der Hand. Vor Leutnant Vogel stand er stramm und meldete.
»Feldküche 5. Kompanie, Feldwebel Müller III. Tagesessen: Gemüsesuppe mit Rindfleisch.«
»Sehr gut!« Vogel war etwas versöhnt. »Der Feuerüberfall hat Appetit gemacht. Bringen Sie mir eine Portion, Feldwebel!«
»Das ist leider unmöglich, Herr Leutnant.«
»Wieso? Noch nicht fertig?«
»Drei Granatsplitter haben den Kessel durchschlagen. Die Suppe liegt auf der Erde.«
»Mahlzeit«, sagte Kunze. Vogel fuhr herum.
»Lassen Sie Ihre dusseligen Allgemeinplätze weg!«
Kunze zog sich innerlich zurück. Dusselig verstand er. Das war ein gutes deutsches Wort und gehörte zu seinem Vokabularium. Aber Allgemeinplätze? Was heißt hier Plätze? Und allgemein? Er sah Leutnant Vogel mit den Augen eines treuen Hundes an und nahm sich vor, nur das Notwendigste zu sagen. Bei Vogel wußte man nie, was er wollte … einmal hatte er sogar lateinisch zu dem Unterführerkorps gesprochen, Mens sana in corpore sano …
Zwei Tage zerbrachen sich die Unteroffiziere den Kopf, bis sich Kunze durchrang, den Oberschützen Hellmer unter dem Vorwand, er müsse für die Stammrolle vergessene Angaben machen, aus dem Bunker V der HKL herausziehen ließ und zur Schreibstube nach Dubrassna befahl. Dort ließ Kunze den Oberschützen Hellmer strammstehen.
»Sie sind Aburent, Hellmer?«
»Was bitte?« fragte Oberschütze Hellmer verblüfft.
»Aburent, Sie Rindvieh!«
»Kenne ich nicht, Herr Hauptfeld.«
»Kennt er nicht!« Kunze schrie und hieb auf den Brettertisch der Schreibstube. »Sie waren doch auf der höheren Schule, Sie Pflaume!«
»Jawoll.«
»Dann sind Sie doch auch Aburent!«
In Hellmer dämmerte es. Er sah an die Decke und atmete tief durch. Nicht lachen, befahl er sich. Himmel, bloß nicht lachen oder gar lächeln. Kunze begeht einen Mord, wenn ich lächle.
»Jawoll«, sagte er leise. »Ich bin Abiturient.«
»Na also, Sie weiche Nudel! Hatten Sie dort Latein?«
»Jawoll. Ich war Humanist.«
»Ich will nicht wissen, ob Sie irgendein Mist waren … ich will wissen, ob Sie Latein hatten!«
»Jawoll.« Oberschütze Hellmer zwang sich, Kunze anzusehen. Dessen Augen waren zufrieden und schauten ihn liebevoll an.
»Was hatten Sie in Latein?«
»Eine 2.«
Kunze warf sich in die Brust. »Hätte besser sein können, Hellmer. Waren wohl immer eine trübe Tasse, was? – Na ja – nicht jeder ist ein
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