Die Rollbahn
Mann«, sagte Tamara und strich mit beiden Händen über ihre Brüste. Kunze wurde versöhnlicher, aber auch mißtrauischer.
»Strakuweit?«
»Dich, ljubimez (Liebling).«
»Aber du hast ihn angestarrt, als wolltest du ihn fressen!« Kunze lächelte breit. »Doch ich bin mehr als er! Ich kann ihn hüpfen lassen, bis er vor Sehnsucht Gänseblümchen frißt!«
»Iiisch weiß …« Tamara Turjetza stieß sich von der Holzwand ab und kam auf Kunze zu. Ihre Augen flimmerten wie bei einer heißen Wölfin. »Du bieest großßßer Krieegsheldd!«
»Scheiße«, sagte Kunze.
Es war gut, daß Tamara ihn nicht verstand. Sie nahm es als Liebkosung und legte ihre Arme um Kunzes dicken Hals. Ihr Körper strömte einen fremden Geruch aus … frisches Heu war in ihm, Safran und Nelken. Kunze grunzte und tastete nach ihren Hüften.
»Komm«, sagte er heiser. »Der Krieg ist ein Spiel für Verrückte. Warum sollen wir die einzigen Vernünftigen sein …«
In der Schreibstube hockte Simpelmeier an dem improvisierten Schreibtisch und hatte Telefonwache. Mit einem Ohr lauschte er hinüber zu dem Nebenraum und biß die Zähne zusammen.
Er beneidete Kunze wie keinen auf der Welt …
Die Essenträger wurden schon erwartet.
Es war gegen 1 Uhr morgens, als sie in die rückwärtigen Gräben stolperten und die auf den Rücken geschnallten Kessel abschnallten. Die Abordnungen der einzelnen Gruppen mit ihren aufgereihten Kochgeschirren hockten längs der Grabenwand auf dem Boden, rauchten in der hohlen Hand Zigaretten oder erzählten Witze zum Thema 1. Unteroffizier Ewald Brösel, den sie seines blassen Aussehens wegen die ›Semmel der Kompanie‹ nannten, begrüßte Leskau mit einem fröhlichen Schulterschlag und boxte Strakuweit in die Seite.
»Kinder, daß ihr wieder da seid! Seit eurem Urlaub ist es an der Front trostlos! Jede Woche nur drei bis vier Tote durch Scharfschützen …« Er versuchte ein schiefes Lachen und sah Leskau aus seinen wasserhellen Augen an. »Wenn die sibirischen Kerle nicht wären, könnte man denken, wir haben eine längere Übung in der Heide.«
Fritz Leskau nickte. Er gab dem Essenholer seiner Gruppe die Hand und füllte selbst die Kochgeschirre aus den Kesseln voll. »Es braut sich was zusammen, Ewald.«
»Das sagt der Alte auch. Aber keiner sieht Bewegungen beim Iwan! Unsere Aufklärer kreisten eine Woche lang herum. Keiner beschoß sie. Nur des Nachts … da hört man Motoren. Nicht nah … ganz von fern … so, als trage der Wind die Geräusche über weite Entfernungen. Am Tage ist dann alles wieder glatt.«
»Und wie geht's sonst?«
»Unverändert, Fritz. Wir warten! Ab und zu fällt ein Schuß, und Faber schreibt einen Brief nach Köln oder nach Kassel oder nach Koblenz … Gefallen für Großdeutschland. Wir werden unseren Kameraden nie vergessen.«
Er drehte sich herum und sah nach hinten. Leskau folgte seinem Blick und sah am Grabenrand ein längliches Paket liegen. Ein Körper in einer Zeltplane, mit zwei Koppeln verschnürt.
»Wer?« fragte er.
»Altmeyer.«
»Vater von vier Kindern …«
»Hm.« Brösel blickte weg, über den Graben hinaus in die mondlose Nacht. Der Boden gab die Hitze des Tages wieder … es war schwül und roch nach Erde. »Er war sofort tot. Zwischen Augen und Stahlhelmrand saß der Schuß. Vor zwei Tagen hat er noch nach Hause geschrieben. Einen Brief, voller Freude und Glück. Er sollte der nächste Urlauber der Kompanie sein … wegen der vier Kinder. Er hat sie seit 1 ½ Jahren nicht mehr gesehen … Hier, das hatte er bei sich …«
Brösel griff in die Brusttasche und holte eine kleine Fotografie heraus. Ein Amateurbild, aufgenommen mit einer kleinen Boxkamera. Die Erinnerung an einen Ausflug auf den Drachenfels am Rhein. Die Ruine der Burg, umflossen von Sonnenlicht, davor eine schlanke, lächelnde Frau, in den hellblonden Haaren den Widerschein des Sommers, vor ihr, der Größe nach aufgereiht, vier Kinder … drei Mädchen und ein Junge … blond wie die Mutter, den Vater hinter der Kamera anlächelnd und Fratzen schneidend. Das Bild eines unendlichen menschlichen Glückes …
1938 stand auf der Rückseite.
Wir auf dem Drachenfels.
Wir … Die Familie Altmeyer aus Mainz.
Fünf glückliche Menschen … bis der Krieg kam.
Und übrig blieb eine Zeltplane, umwickelt mit zwei Koppeln.
Und ein Loch mitten auf der Stirn.
Und eine zerbrochene Erkennungsmarke. Eine Eintragung in das Wehrstammbuch. Eine Anzeige im Mainzer Stadt-Anzeiger. In stolzer
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