Die Rollbahn
Trauer.
Frau Altmeyer wollte schreiben: In tiefer Trauer. Aber das verbot die Partei. Eine deutsche Frau hat stolz zu sein, wenn ihr Mann für den Führer fällt. Auch die vier Waisen hatten stolz zu sein. Denn der echte Deutsche ist nicht Ehemann oder Vater, Sohn oder Bruder, sondern in erster Linie Soldat und Held! Dafür lebt er. Und dafür stirbt er! Hurra! Hurra! Hurra!
Fritz Leskau gab das Bild an Brösel zurück. In seiner Kehle saß ein trockener Klumpen, den er nicht hinunterschlucken konnte.
Brösel verstand ihn und steckte wortlos das Bild wieder in seine Brusttasche.
»Der nächste, der jetzt in Urlaub fährt, ist Wiegner. Er hat heute Wache am MG 42.«
Leskau sah Brösel groß an. Wiegner war aus seiner Gruppe. Ein junger Bursche, Bauhandwerker mit dem Ziel, einmal Architekt zu werden. In seiner Freizeit saß er im Bunker und zeichnete auf allem Papier, das er besorgen konnte, Skizzen und Grundrisse von Häusern. Hochbauten, Villen, Schulen, Siedlungsviertel … Schöne Bauten, modern und glatt, mit großen Fensterflächen, die die Natur in die Räume dringen ließ. »Der Mensch soll in der Sonne leben«, sagte er einmal zu Oberleutnant Faber, als dieser seine Entwürfe ansah. »Wir modernen Städter haben vergessen, daß es Bäume gibt, in denen Vögel nisten und singen, und daß es Wiesen gibt, über die die Hummeln brummen und schwerelos die Falter schweben.« Damals war Oberleutnant Faber sinnend und still aus dem Bunker gegangen und hatte draußen im Graben zu Leskau gesagt:
»Passen Sie mir auf den Jungen auf. Er ist einer der wenigen, die noch ihre Mitmenschen lieben.«
Die Essenträger von Müller III hatten ihre Kübel leer. An den Koppeln der Essenholer klapperten dumpf und voll die Kochgeschirre. Ewald Brösel sah auf seine Armbanduhr.
»Noch zehn Minuten, Jungs.«
Die Zeltplane mit Altmeyer wurde über die Erde gezogen und auf den Grabenrand gestemmt.
»Wie schwer er ist«, sagte einer der Männer. »Und dabei ist er kleiner als ich.«
Leskau wandte sich ab und ging ein Stück nach vorn. Brösel und Strakuweit folgten ihm.
»Vier Jahre war er bei uns«, sagte Strakuweit leise. »Wißt ihr noch, wie er in Witkowo die Hühner klaute und das Stück für Kunze mit Rizinus einrieb? Vier Tage hat der Dicke geschissen und wollte sich krank melden wegen Ruhrverdacht.«
Sie sahen gegen die Grabenwand. Niemand lachte. Die Erinnerung zog in ihnen auf.
Witkowo. Der Vormarsch nach Moskau. Über die Rollbahn … tagelang, wochenlang … den Russen verstört vor sich hertreibend.
Der deutsche Soldat ist unbesiegbar, schrie Goebbels in die Welt hinaus. Er revidiert die Irrtümer der Geschichte!
Strakuweit putzte sich die Nase. »Nicht denken, Kinder«, sagte er dumpf. »Wir haben noch mehr Zeltplanen vor uns …«
Das Erfassungsamt für Kriegsarbeitseinsatz lag in Königsberg in einem alten, aus Backsteinen erbauten fünfstöckigen Gebäude am Pregel. Hier meldete sich Inge Hellwag und erhielt die Adresse eines Werkes vor der Stadt. Sie fuhr mit der Straßenbahn hinaus und wunderte sich, als sie das Fabriktor durchschritt, über die Stille, die das weite Gelände umgab und die so gar nicht zu dem paßte, was man sich unter einem ›Produktionsbetrieb kriegswichtiger Teile‹ vorstellte.
Der Personalchef saß in einem runden Polstersessel, als Inge eintrat. Er erhob sich nicht, als sie ihn mit »Guten Morgen« begrüßte, sondern zog unwillig die dichten, schwarzen Augenbrauen zusammen.
»Heil Hitler!« sagte er scharf.
»Heil!« antwortete Inge verstört. »Ich soll mich hier melden.«
»Mit einem gutbürgerlichen guten Morgen, was? Haben Sie elf Jahre lang geschlafen? Wer sind Sie?«
»Inge Hellwag.«
»Ach!« Der Personalchef schien von dem Namen sehr angetan zu sein. »Inge Hellwag. Sieh, sieh …« Er blätterte in den verschiedenen Akten, die vor ihm lagen, und holte einen dünnen Schnellhefter hervor, den er fast genießerisch aufschlug. »Wissen Sie, was das ist?« fragte er Inge.
»Ich nehme an, meine Personalakte.«
»Ganz recht. Ihre Personalakte. Ihr Schatten, der Sie begleiten wird bis zum Grab. Wo auch immer Sie sein werden … diese Akte wandert mit. Wir haben eine gründliche Bürokratie.« Er lachte meckernd und musterte Inge Hellwag wieder scharf. Über sein hartes, faltiges und ziemlich langes Gesicht – er sieht aus wie ein vertrocknetes Pferd, durchfuhr es Inge – glitt tiefe Zufriedenheit. Netter Käfer, dachte er in diesem Augenblick. Schöne Larve, griffige
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