Die Rollbahn
Brüste, schmale Hüften, lange Schenkel … so etwas macht den Opa wieder flott. Er beugte sich über die Akte und ließ seine langen Finger über die Zeilen gleiten. »Sie sind die Tochter des in den Ruhestand ohne Pension versetzten Reichsbahnrates Ernst Hellwag?«
»Ja.«
»Und darauf sind Sie auch noch stolz?«
»Auf meinen Vater? Ja! Sie sind es auf Ihren Vater sicherlich auch.«
»Mein Vater war kein Defätist und kein Schwein!«
»Herr …!«
»Ruhe!« Der Personalchef schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Um ihnen klarzumachen, welcher Wind hier weht, sollten Sie wissen, daß ich Beauftragter des SD bin mit der Pflicht, alle zum heimatlichen Wehreinsatz beauftragten Personen auf ihre politische Zuverlässigkeit zu überprüfen! Der Grad ihrer Zuverlässigkeit bestimmt den Einsatzort und die Art der Arbeit. Haben Sie verstanden?«
»Sie haben laut genug gesprochen.«
Durch Inges Körper zog eine eisige Welle. Sie schirmte sich ab, sie zwang sich, keine Gefühle mehr zu haben. Wie hatte Ernst Hellwag gesagt, als man ihn als alten Deutschnationalen aus dem Amt jagte wie einen lahmen Hund: »Wir müssen uns angewöhnen, von jetzt ab eine Seele wie ein Wachstuch zu haben. Alles abtropfen lassen, was kommt … und später mit einem feuchten Lappen drüber. Dann ist alles wieder sauber …« Eine Seele wie ein Wachstuch … Inge Hellwag biß die Lippen zusammen.
Der SD-Personalchef musterte sie wie eine zum Verkauf stehende Stute. Ein Wunder, daß er ihr nicht in den Mund sah und das Gebiß prüfte. Dafür tastete er mit spürbaren Blicken Inges Brüste ab und schien sich weltanschaulich daran zu beruhigen.
»Sie wissen, daß Ihr Vater ein Defätist ist?«
Inge schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist für mich nur mein Vater. Seine politischen Einstellungen kümmern mich nicht.«
»Das sollten Sie aber, mein Fräulein! Wie der Baum, so die Äpfel! Ein kranker Baum gibt faule Früchte …«
»Das dürfte biologisch nicht haltbar sein.«
»Ihre Biologie können Sie sich an den Nagel hängen!« Der SD-Mann sprang hinter seinem Schreibtisch auf und kam um ihn herum auf Inge zu. »Frauen sollten ihre Biologie auf Kinderkriegen beschränken.«
»Ich werde es meinem Verlobten schreiben«, sagte Inge kühl. Innerlich zitterte sie und starrte in das Pferdegesicht, das vor ihr stand und gegen den Hintergrund des hellen Fensters wie eine verunglückte Maske wirkte. Der Personalchef grinste.
»Einen Verlobten haben Sie auch schon?«
»Ja. Er ist Unteroffizier. An der Front, in Rußland. Bei Orscha an der Rollbahn.«
»Tapfer, tapfer! Held an der Front und Held im Herzen der kleinen Mädchen.« Er betrachtete Inge mit einem frechen, von oben bis unten gleitenden Blick und nickte. »Also verlobt. Kein unschuldiges Häschen mehr, hat schon Milch geschleckt, die Kleine.« Er griff Inge unter das Kinn. Sie wich zurück und hob die Hand, als wollte sie schlagen.
»Lassen Sie das!« sagte sie leise.
»Prüde?«
»Nein – wählerisch …«, sagte sie frech.
In die Augen des SD-Mannes trat ein fahler Schein. Er drehte sich brüsk herum und ging wieder hinter seinen Schreibtisch. Dort schlug er die Personalakte zu, so, als wäre sie abgetan und käme ins Archiv. Nur der Vermerk … verstorben am … fehlte noch.
»Wie Sie wollen, Fräulein Inge Hellwag, künftige Frau Unteroffizier«, sagte er hämisch und breit. »Wir haben Mittel, legale Mittel, Sie so klein zu bekommen, daß Sie nachts winselnd vor meinem Fenster stehen und mich anflehen, Sie zu mir ins Bett zu nehmen.« Sein Pferdekopf ruckte hoch. Der Blick, dem er begegnete, war voll Verachtung und Ekel. »Was halten Sie von einem Arbeitseinsatz in einer unterirdischen Munitionsfabrik? Zehn Stunden ohne Sonne und Luft … nur unter Lampen und Luftfiltern? Umdröhnt von Hunderten Maschinen?«
»Bitte.« Inge Hellwag hob die Schultern. »Wenn dort andere arbeiten können, kann ich es auch.«
»Das feine Fräulein Reichsbahnrat? Die Lyzeumsbraut? Sie würden durchdrehen.«
»Das soll nicht Ihre Sorge sein.«
»Es ist aber meine Sorge. Sie sind zu hübsch für unter Tage. Ich möchte Sie konservieren. Vielleicht erleben wir beide den erhebenden Augenblick, wo wir uns nett finden.«
»Dann müßte ich erst taub, stumm und gehirnlos werden.«
Der SD-Mann grinste. »Das ist genau der Zustand der ›himmlisch Verliebten‹!« Er setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und ließ seine dürren Beine in den schwarzen SS-Stiefeln hin und her pendeln.
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