Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
die Uhr die Durchsagen des amerikanischen UKW-Senders in ihren Radios verfolgen und darauf warten, dass die »geheime, verschlüsselte Nachricht« den Beginn der Evakuierung verkündet. Richtig gelesen: erst eine Meldung, »die Temperatur in Saigon beträgt derzeit 40 Grad, Tendenz steigend«, dann die ersten acht Takte von »I’m Dreaming of a White Christmas«.
Und jeder Vietnamese, der weder ein UKW-Radio noch eine Ahnung hat, wo sich die Sammelstellen befinden, braucht einfach nur zu der zusammengeschrumpften »amerikanische Zone« rund um die großen Hotels an der Tu-Do-Straße zu rennen und sich dem ersten Rundäugigen an die Fersen zu heften, den er mit einem Koffer in der Hand die zerschossenen Gehwege entlanglaufen sieht. Oder er lässt sich vom ohrenbetäubenden Lärm der riesigen Chinooks leiten, der vor allem dort besonders heftig sein wird, wo sie, begleitet von einem Geschützhagel aus Raketenwerfern und automatischen Waffen, versuchen werden, auf einer Reihe von Hochhausdächern niederzugehen.
SX Weiterleitung Rolling Stone an Paul Scanlon, Rolling Stone, San Francisco Telex Nummer RS 34 0337.
Die Telefonleitungen sind zeitweilig zusammengebrochen, deshalb kann ich nicht anrufen. Hier also meine Sicht der Situation. Ich werde versuchen, per Telex noch mal 2000 Wörter oder wenn’s geht ein bisschen mehr zu schicken. Der Kram sollte dann Montagnachmittag oder -abend oder Dienstagmorgen bei euch eintrudeln.
Danke Hunter – NTL 1520PM
SX Weiterleitung Rolling Stone HST-Saigon … Seite eins. An: Paul Scanlon … Rolling Stone … San Francisco Telex Nummer RS 34 0337. Von: Hunter S. Thompson … Auslandsredaktion … Zimmer 9.37 Continental Hotel … Saigon … 20. April 1975.
Die Stimmung hier ist zunehmend gereizt, bzw. hochgradig nervös. Vorauseinheiten der NVA sind nur noch fünf Meilen von der Stadtgrenze entfernt, und es ist jederzeit möglich, dass sie den Flughafen mit Artilleriefeuer lahmlegen und uns von der Außenwelt abschneiden. Unsere einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, wären dann die Hubschrauber der Marine. Es kann außerdem jederzeit passieren, dass ganz in der Nähe eine Rakete einschlägt. In diesem Fall würde ich, so schnell es geht, herübersprinten zum Büro von UPI in der Hoffnung darauf, alles, was ich derzeit habe, noch schnell zu kabeln, bevor sie auf Notbetrieb umstellen und das Telex nur noch für ihre eigenen Meldungen zur Verfügung steht. Falls du nichts mehr von mir hörst und du dich wunderst, woran es liegen könnte, erkundige dich einfach bei UPI und frag nach, wie weit die Situation hier aus den Fugen geraten ist.
Loren Jenkins, der Leiter des Newsweek -Büros, hat gerade einen lokalen Verbindungsmann losgeschickt, damit er uns auf dem Schwarzmarkt ein Paar kugelsichere Westen, zwei Helme und vielleicht ein paar Bajonette besorgt, die neuerdings hier in der Gegend hoch im Kurs stehen.
Ich selbst habe versucht, einen Revolver zu kaufen, aber aus offensichtlichen Gründen ist so was derzeit für kein Geld der Welt zu haben. Einige der Presseveteranen drängen darauf zu versuchen, ein paar M-16-Sturmgewehre aufzutreiben, damit wir das Hotel zumindest so lange gegen marodierende Massen verteidigen können, bis die Marinehubschrauber auftauchen – was im Grunde bedeutet, das Continental in eine Art Alamo zu verwandeln, wobei in etwa die Hälfte der Anwesenden gegen diesen Vorschlag ist aus der Überlegung heraus, dass jegliches Feuer aus dem Hotel im Gegenzug den Beschuss durch die feindlichen Kräfte nach sich ziehen wird. Ich habe dazu derzeit keine Meinung, neige aber zu der Auffassung, dass ein M-16 unter Umständen ganz nützlich sein könnte – nicht um mir damit den Vietcong oder die NVA vom Hals zu halten, sondern vielmehr als Schutzmaßnahme gegen von Panik erfasste, halb wahnsinnige Horden von Deserteuren oder wild gewordener Einheimischer, die eventuell auf die Idee kommen könnten, dass die etwa 500 Korrespondenten, die im Caravelle und im Continental festsitzen, ihre letzte Gelegenheit darstellen, sich bei den Amerikanern zu revanchieren. Du kannst außerdem Jann ausrichten, dass die dreiteilige Funkanlage, die ich aus Hongkong mitgebracht habe, mittlerweile auch von anderen Mitgliedern des Pressekorps verwendet wird und in einer plötzlich auftretenden Notsituation von den mit der Evakuierung betrauten Personen benutzt werden wird. Als Pnom Penh evakuiert wurde, mussten die Presseleute alles zurücklassen – von Schreibmaschinen bis zu
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