Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
sie werden es dennoch erleben. Die Amerikaner werden diesen Krieg verlieren, wenn ihre militärische Macht am größten ist und der gigantische Apparat, den sie aufgebaut haben, zur Bewegungslosigkeit verdammt ist … dann wird sich all das Geld und der Aufwand, den sie betrieben haben, als ein Mühlstein um ihren Hals herausstellen. Diese Entwicklung ist völlig unausweichlich.
– General Vo Nguyen Giap, 1969
Es ist 3 Uhr 35 morgens an einem feuchtheißen Sonntag in Saigon, und mir ist schon wieder das Eis ausgegangen. Den Großteil der Nacht hat es geregnet und die Bar im Innenhof des Hotel Continental hat vorzeitig geschlossen. Die Seiten meines Notizblocks sind labberig und die blau-weißen Kacheln auf dem Boden meines Hotelzimmers so schlüpfrig, dass nicht einmal meine gummibesohlten weißen Basketballschuhe genügend Bodenhaftung bieten, um in meinem Zimmer auf und ab zu hetzen, wie es sich für einen Mann gehört, der allmählich von Angst und Panik gepackt wird.
Der leere silberne Eiskübel ist noch mein geringstes Problem heute Nacht. Um ihn auffüllen zu lassen, brauche ich nur auf den abgedunkelten Flur hinauszugehen und einen der drei oder vier klein gewachsenen, mageren alten Männer in ihren weißen Pyjamas zu wecken, die unruhig auf grünen Bambusmatten hinter der Wendeltreppe zur Hotelhalle schlafen. Sie werden schon beim leisesten Geräusch und der geringsten Berührung wach, und nachdem sie nun seit nahezu einer Woche vor meinem Zimmer nächtigen, haben sie gelernt, auf mein allnächtliches Eisproblem mit dem gleichen toleranten Fatalismus zu reagieren, den ich mittlerweile in Bezug auf das Rumpeln des Artilleriefeuers entwickelt habe, das von Süden her aus etwa fünf bis sechs Meilen Entfernung durch mein Fenster dringt. Es ist ein Klang, den ich noch nie zuvor in meinem Leben gehört habe – nicht einmal aus der Distanz. Deswegen weiß ich nie, ob das ferne Rumpeln der Explosionen, die Nacht für Nacht die Eiswürfel in meinem Kühler durchschütteln, »ankommendes« oder »ausgehendes« Feuer bedeutet.
Die Artilleriegeschütze in der Ferne sind diese Nacht auffällig stumm – was vermutlich nichts Gutes verheißt, denn es bedeutet, dass der Vietcong und die nordvietnamesischen Truppen, die diesen zum Untergang verdammten Vulkan einer Stadt bereits von drei Seiten eingeschlossen haben, die friedlichen frühen Morgenstunden aller Wahrscheinlichkeit damit verbringen, ihre 130-mm-Belagerungsartillerie in den Schlamm nördlich der Saigoner Verteidigungslinie zu rollen und für den letzten Schlag in Stellung zu bringen. Diese verläuft um Bien Hoa herum und um die Überreste des einstmals größten US-Militärflughafens außerhalb der USA. Die 18. Division der südvietnamesischen ARVN, die abgestellt war zur Verteidigung des gerade mal 25 Autobahnkilometer nördlich von Saigon gelegenen Bien Hoa, ist anscheinend während der einwöchigen Schlacht um Xuan Loc durch den Fleischwolf gedreht worden. Die letzten Berichte von der Front besagen, dass zwei der drei Regimenter der Achtzehnten aus welchen Gründen auch immer nicht mehr existieren und dass das dritte Regiment auf eine Kampfstärke von 500 Mann geschrumpft ist.
Letzte Woche – kurz bevor ich gezwungen war, wegen einer dringenden Gewebetransplantation nach Hongkong zu fliegen – bestand die 18. Division der ARVN noch aus drei Regimentern à 2000 Mann, und sie hielten sich beachtlich gut in den Kämpfen um Xuan Loc, einer Schlacht, die vom Großteil der Militärexperten als der Anfang und das Ende der »Schlacht um Saigon« betrachtet wird.
Nun denn … wenn das stimmen sollte, dann sitzen wir hier schwer in der Tinte. Wenn ich die Karte von Vietnam betrachte, die in der Suite des Rolling Stone -Auslandskorrespondenten an der Wand hängt, muss ich leider feststellen, dass der Abstand zwischen Bien Hoa und Saigon gerade mal den Durchmesser einer Dunhill-Zigarette beträgt, oder eventuell einer dieser kleinen Batterien, wie man sie für Transistorradios benutzt – und das ist nicht allzu viel, weder auf der Karte noch auf der Straße, egal wie man es betrachtet. Die alten Hasen unter den Kriegsberichterstattern, die mittlerweile so gut wie sämtliche Zimmer des Continental und des 200 Meter entfernt gelegenen Caravelle in Beschlag genommen haben, rechnen damit, dass die Straßen Saigons in allernächster Zukunft von Kundschaftern des Vietcong und Panzern der nordvietnamesischen Volksarmee förmlich überflutet werden … was zur Folge
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