Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Sechzigerjahre geschafft haben, die Kontrolle über die Regierung an sich zu reißen, werden ein für alle Mal aus dem Tempel getrieben, und das Weiße Haus wird wieder zu einem Hort der Aufrichtigkeit, des Anstands, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Mitgefühls – und zwar so sehr, dass es fast schon im Dunkeln leuchtet.
Eine sehr verlockende Vision, und niemand versteht das besser als Jimmy Carter. Das Wahlvolk hat das Verlangen nach Reinwaschung, Bestätigung und Erneuerung. Die Underdogs der Vergangenheit hatten ihre Chance, und sie haben sie vermasselt. Die Radikalen und Reformer der Sechziger versprachen Frieden, doch sie entpuppten sich als nichts weiter als inkompetente Unruhestifter. Ihre Pläne sahen auf dem Papier großartig aus, doch sie führten zu Chaos und Katastrophen in dem Augenblick, als irgendwelche Politprofis sie umzusetzen versuchten. Das Versprechen, die Bürgerrechte umzusetzen, endete im Albtraum des Schulbus-Desasters. Der Ruf nach Recht und Ordnung führte zu Watergate. Und der lange Kampf zwischen Falken und Tauben endete mit Gewalt in den Straßen und dem militärischen Debakel in Vietnam. Am Ende gewann niemand, und als der Staub sich gelegt hatte, standen die »Extremisten« auf beiden Seiten des politischen Spektrums gründlich diskreditiert da. Und als der Präsidentschaftswahlkampf 1976 losging, kam man in der Mitte der Fahrbahn am schnellsten voran und konnte die anderen hinter sich lassen.
Jimmy Carter hat das kapiert, und er hat seine Kampagne so zugeschnitten, dass sie nahezu perfekt zu der neuen Stimmung im Land passt … doch damals im Mai ’74, als er nach Athens flog, um seine »Anmerkungen« bei den Feierlichkeiten zum Law Day vorzutragen, war er noch nicht in dem Maße wie heute darauf bedacht, sein gemäßigtes Image zu wahren. Seine Gedanken drehten sich damals um all den Ärger, den ihm Richter, Anwälte, Lobbyisten und andere Mitläufer des Establishments von Georgia bereitet hatten, während er Gouverneur war, und jetzt, wo er noch sechs Monate im Amt vor sich hatte, wollte er diesen Leuten mal ein paar Worte sagen.
Zu Beginn seiner Rede lag so gut wie keinerlei Zorn in Carters Stimme, doch nach etwa der Hälfte der Zeit hatte sich das so gründlich geändert, dass es von niemandem im Saal zu überhören war. Andererseits gab es keine Möglichkeit, ihm das Wort abzuschneiden, und Carter wusste das. Es war dieser Zorn in seiner Stimme, der zunehmend scharfe Tonfall, der mich aufhorchen ließ, doch was mich veranlasste, zum Kofferraum zu gehen und mir statt der Whiskeyflasche meinen Kassettenrekorder zu schnappen, war das Schauspiel eines Südstaatenpolitikers, der einem Publikum aus Südstaatenanwälten und -richtern erklärte: »Ich bin nicht qualifiziert genug, um Ihnen einen Vortrag über das Gesetz zu halten, denn neben meiner Tätigkeit als Erdnussfarmer bin ich lediglich Ingenieur und Kernphysiker und kein Anwalt … Aber ich lese viel, und ich höre mir an, was andere zu sagen haben. Mein Verständnis über die korrekte Anwendung der Prinzipien von Strafrecht und Billigkeit ist geprägt von Reinhold Niebuhr. Die andere prägende Figur meiner Auffassung davon, was in unserer Gesellschaft falsch und richtig ist, ist ein Dichter, mit dem mich eine persönliche Freundschaft verbindet. Sein Name ist Bob Dylan, und es sind seine Lieder wie beispielsweise ›The Lonesome Death of Hattie Carroll‹ oder ›Like a Rolling Stone‹ und ›The Times They Are A-Changing‹ gewesen, die mich gelehrt haben, die Dynamik des Wandels in einer Gesellschaft schätzen zu lernen.«
Im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte. Ich schaute hinüber zu Jimmy King. »Was war das gerade?«, fragte ich voller Unglauben.
King seinerseits schaute lächelnd zu Paul Kirk herüber, der sich über den Tisch beugte und flüsterte: »Er hat gerade gesagt, seine beiden Topberater sind Bob Dylan und Reinhold Niebuhr.«
Ich nickte und machte mich auf den Weg nach draußen, um meinen Kassettenrekorder zu holen. Der immer deutlicher hörbare Zorn in seiner Stimme ließ für mich keinen Zweifel daran aufkommen, dass dies hier eine interessante Angelegenheit werden würde … Und als ich zurückkam, war er gerade dabei, seinem Publikum Geschichten von Richtern um die Ohren zu dreschen, die Bestechungsgelder als Gegenleistung für verkürzte Haftstrafen kassierten, über Anwälte, die vorsätzlich und systematisch Schwarze über den Tisch zogen, die weder lesen noch
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