Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
er zeigte mir nur anderthalb mit Stichworten vollgeschriebene Notizblockseiten und sagte, das sei alles gewesen, was er hatte.
»Gott im Himmel«, sagte ich. »Das da eben hat mich fast umgehauen, ich glaube nicht, das ich jemals was von einem solchem Kaliber zu hören bekommen habe – und Sie sagen mir, Sie hätten das einfach so aus dem Ärmel gezaubert?«
Er zuckte mit den Achseln und schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Nun ja«, sagte er, »ich hatte vorher eine ziemlich klare Vorstellung davon, was ich sagen wollte – ich war allerdings selbst ein bisschen erstaunt darüber, wie es sich dann anhörte.«
Kennedy gab zu der Rede nur den Kommentar ab, dass er sie »sehr genossen« habe, aber er wirkte nach wie vor so, als würde er sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen. Und so unterhielt ich mich mit Carter über den Abend, an dem er Bob Dylan und einige seiner Freunde nach dessen Konzert in Atlanta in die Gouverneursresidenz eingeladen hatte. »Ich fand das wirklich toll«, sagte er und strahlte dabei übers ganze Gesicht. »Es war eine wirkliche Ehre, ihn bei mir zu Gast zu haben.«
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich Jimmy Carter mochte – doch damals ahnte ich noch nicht im Geringsten, dass er sich schon ein paar Monate zuvor zu dem Entschluss durchgerungen hatte, 1976 für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. Und selbst wenn er mir sein kleines Geheimnis auf dem Rückflug nach Atlanta anvertraut hätte, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn ernst genommen hätte … Aber wenn er es mir erzählt und ich ihn ernst genommen hätte, dann hätte ich ihm vermutlich erklärt, dass er auf meine Stimme rechnen konnte, und zwar einzig und allein aufgrund der Rede, in deren Genuss ich gerade gekommen war.
Die Law-Day-Rede bewegt sich jenseits der Denkkategorien hoch spezialisierter Technokraten, und genau diese Denkkategorien sind der vermutlich einzige gemeinsame Nenner, den all die Organisatoren, Strategen und Ratgeber an der Spitze von Carters Wahlkampfstab teilen. Von diesen Typen machen nur sehr wenige den Eindruck, als würden sie sich dafür interessieren, warum Jimmy Präsident werden will und was er eventuell anstellen wird, falls er die Wahl gewinnt: Sie verdienen ihre Brötchen damit, Jimmy Carter den Einzug ins Weiße Haus zu ermöglichen, und das ist alles, was sie wissen, und mehr interessiert sie auch nicht. Und bisher machen sie ihre Sache ziemlich gut. Wenn man Billy the Geek, dem Buchmacher für Politwetten, glauben darf, stehen die Wetten, dass Carter die Wahl im November gewinnt, bei einer Quote von drei zu zwei, nachdem er vor knapp einem halben Jahr noch bei fünfzig zu eins gelegen hat.
»Atemberaubend« ist noch der mildeste Ausdruck für eine Kampagne, die es geschafft hat, aus einem beinahe gänzlich unbekannten Exgouverneur von Georgia – der in den landesweiten Medien bis dahin so gut wie nicht auftauchte, in der Demokratischen Partei über keinerlei Machtbasis verfügt und nicht die geringste Scheu an den Tag legt, Walter Cronkite, John Chancellor oder wer immer sonst ihn danach fragt, zu erklären, »das Wichtigste in meinem Leben ist Jesus Christus« – nach nur neun von zweiunddreißig Vorwahlen nicht nur zum nahezu uneinholbaren Favoriten für die Nominierung durch die größte politische Partei des Landes zu machen, sondern ihn darüber hinaus zu einem aussichtsreichen Herausforderer für einen relativ populären Präsidenten aus dem republikanischen Lager aufzubauen, der es seinerseits irgendwie geschafft hat, sowohl die Wirtschafts- als auch die Gewerkschaftsbosse davon zu überzeugen, dass er das Land vor einer wirtschaftlichen Katastrophe bewahrt hat. Wäre die Präsidentschaftswahl schon morgen, würde ich allenfalls drei leere Bierdosen darauf wetten, dass Gerald Ford es schafft, Jimmy Carter zu schlagen.
… Was? Streichen Sie das wieder. Gerade bekomme ich einen Anruf, wonach Time gerade eine Umfrage veröffentlicht hat – einen Tag nach der Vorwahl in Texas –, die besagt, dass Jimmy Carter gegen Gerald Ford mit 48 gegen 38 Prozent der Wählerstimmen vorne liegen würde, wären die Wahlen am nächsten Sonntag. Vor sieben Wochen sah es Time zufolge noch genau umgekehrt aus … Ich war in Mathe noch nie besonders gut, aber auf den ersten Blick macht das den Eindruck, als hätte Carter innerhalb von sieben Wochen zwanzig Prozent dazugewonnen und Ford zwanzig verloren.
Wenn das stimmt, dann ist es definitiv an der Zeit, Billy the Geek
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