Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Kommen und Gehen machen plötzlich denen über Patty Hearst Konkurrenz. Seine Promoter sagen, er sei in Cleveland, und die Times sagt, er sei in New York, zum Sparring im Felt Forum, aber an keinem der beiden Orten ist er gesehen worden. Es ist ein Spiel, das er mit allen spielt: außer Reichweite steppen, dann plötzlich das Gesicht vorstrecken und dann schnell wieder weg …
Sein Versteckspiel wird unterstützt von einem der gewieftes ten inneren Kreise von Beratern seit Kardinal Richelieu. Jeder kann ihn in der Öffentlichkeit sehen – ich glaube sogar, es ist sein geheimer Wunsch, von jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf unserem Planeten gesehen zu werden –, aber ihn privat zu sehen, das ist schwieriger, als von der rotchinesischen Botschaft ein Visum zu bekommen.«
Nun … ich habe an beiden Türen angeklopft und an beiden Fronten Misserfolge und Enttäuschungen erlebt; aber ich habe das Gefühl, dass Sheed nie richtig verstanden hat, dass es wichtig ist, Chinesisch zu sprechen . Oder zumindest den richtigen Dolmetscher dabeizuhaben – und davon gibt es nicht viele, weder in der Umgebung Muhammad Alis noch bei der rotchinesischen Botschaft … Aber in Alis Fall hatte ich schließlich meinen alten Kumpel Hal Conrad, dessen delikate Funktion als Muhammads inoffizieller Dolmetscher für die Welt der Weißen Medien ich erst langsam zu verstehen begann …
Ich kenne Conrad seit 1962, als ich ihm in Las Vegas beim zweiten Liston-Patterson-Kampf begegnete. Er machte die Presse und Publicity für jedes grausame Kuriosum, und ich war der jüngste und dämlichste »Sportjournalist«, der je über einen Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht zu berichten hatte … Aber Conrad, der die totale Kontrolle über jeden Zugang zu allem hatte, gab sich die größte Mühe, meine nervöse Unkenntnis und meinen absoluten Mangel an Spesengeldern zu übersehen – er lud mich zusammen mit all den »großen Namen« zu Pressepartys und Interviews mit den Boxern und obendrein zu dem überwältigenden Spektakel ein, Sonny Liston zuzusehen, wie er zu den Klängen von »Night Train« den großen Punching-Sack in seinem überfüllten und mit Teppichen ausgelegten Basis-Camp im Thunderbird Hotel bearbeitete … Als der Song lauter und heavier wurde und sich dem Höhepunkt von Big-Band-Rock-’n’-Roll-Wahnwitz näherte, trat Liston an den 100-Kilo-Sack und schlug ihn mit seinen Haken waagerecht in die Luft – wo er für einen langen und angsterregenden Augenblick zu hängen schien, bevor er mit einem bösartigen KLONG und einem Ruck, der den ganzen Raum erzittern ließ, am Ende einer nur drei Zentimeter langen Eisenkette wieder in die Senkrechte fiel.
Ungefähr eine Woche beobachtete ich Sonny, wie er jeden Nachmittag an dem Sack trainierte, lange genug, um den Eindruck zu gewinnen, er müsse mindestens ein halber Riese sein, viel größer als zwei Meter … bis ich eines Abends, etwa ein oder zwei Tage vor dem Kampf, buchstäblich in Liston hineinlief, der mit seinen beiden gigantischen Leibwächtern an der Tür des Thunderbird Casino stand, und im ersten Moment erkannte ich den Champ gar nicht, denn er war nur ungefähr eins achtzig groß, und nur der dumpfe starre Blick unterschied ihn von den vielen anderen reichen fiesen Niggern, denen man in jener Woche im Thunderbird begegnen konnte.
Jetzt also, an diesem wirren Sonntagabend in New York – mehr als fünfzehn Jahre und 55000 olivgrüne Grabsteine zwischen Maine und Kalifornien, seit mir zum ersten Mal bewusst geworden war, dass Sonny Liston siebeneinhalb Zentimeter kleiner war als ich – kam alles zusammen oder brach vielleicht schon wieder auseinander, als ich mich im Taxi dem Plaza näherte und mich auf ein weiteres völlig ungewisses, aber wahrscheinlich von vornherein unglückseliges und dumpfes Zusammentreffen mit der Welt des Profiboxens vorbereitete. Auf dem Weg vom Flughafen hatte ich mich schon mit einem Sixpack Ballantine Ale eingedeckt, und dann hatte ich noch einen Liter Old Fitzgerald, den ich mir von zu Hause mitgenommen hatte. Meine Stimmung war übel und zynisch. Auf der langen Fahrt durch Brooklyn hatte ich nur daran gedacht, dass von Conrads Versuchen, mit Ali etwas zu »arrangieren«, herzlich wenig zu halten war.
Meine Art Witz ist es, die Wahrheit zu sagen. Das ist witziger als alles andere.
– Muhammad Ali
Genau … Und es ist außerdem eine Definition von »Gonzo-Journalismus«, wie ich sie besser noch nicht gehört habe. Aber mir war nicht
Weitere Kostenlose Bücher