Die Romanow-Prophezeiung
Rasputins Tod und Nikolaus’ Befreiung von Alexandras deutschem Joch gewünscht, doch ebenso das Weiterbestehen des zaristischen Russlands. Stattdessen hatte sich die Newa, genau wie von Rasputin vorhergesagt, mit dem Blut der Adligen rot gefärbt. Die Romanows waren dahingemetzelt worden.
Russland war am Ende.
Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erblickte das Licht der Welt.
»Und was geschah nach Alexejs und Anastasias Ankunft in den Vereinigten Staaten?«, fragte Lord.
Thorn saß vor dem Fenster auf der Couch. Akilina hockte auf dem Bett. Sie hatte mit unverhohlenem Staunen zugehört, als Thorn die Lücken der ihnen bekannten Geschichte füllte. Auch Lord war verblüfft.
»Zwei weitere Russen erwarteten sie schon hier. Jussupow hatte sie vorausgeschickt, um einen sicheren Ort zu suchen. Einer von ihnen war im Osten der USA gewesen und hatte die Appalachen bereist. Er kannte die Paulownia, den so genannten Blauglockenbaum, und diese Namensverbindung schien ihm ein Zeichen zu sein. Daher wurden die beiden Kinder erst nach Asheville gebracht und dann ein Stück weiter nördlich nach Genesis. Sie lebten bei dem russischen Paar, mit dem sie schon die Schiffsreise unternommen hatten. Der Name Thorn wurde gewählt, weil er hier recht verbreitet ist. So wurden sie Paul und Anna Thorn, die einzigen Kinder von Karel und Ilka Thorn, einem slawischen Ehepaar aus Litauen. Damals immigrierten Millionen von Menschen in dieses Land. Keiner schenkte diesen vieren irgendwelche Aufmerksamkeit. In Boone gibt es eine große slawische Gemeinde. Und damals wusste niemand im ganzen Land auch nur das Geringste über die Zarenfamilie.«
»Waren sie hier glücklich?«, fragte Akilina.
»O ja. Jussupow stieg groß in den amerikanischen Aktienmarkt ein und finanzierte mit der Dividende die Ansiedlung der Thorns. Dabei wurden allerdings alle Anstrengungen unternommen, den Wohlstand verborgen zu halten. Die Thorns lebten schlicht und hatten nur über Mittelsmänner Kontakt zu Jussupow. Erst Jahrzehnte später unterhielt Jussupow sich auch persönlich mit meinem Vater.«
»Wie lange lebten Alexej und Anastasia denn?«
»Anastasia ist 1922 gestorben. An einer Lungenentzündung. Sehr traurig, und nur zwei Wochen vor ihrer geplanten Hochzeit. Jussupow fand einen geeigneten Ehemann, der den Kriterien des Zarenreichs entsprach, nur dass das Adelsblut in seinen Adern sehr verdünnt war. Alexej hatte schon ein Jahr früher geheiratet. Er war achtzehn, und man zeigte sich besorgt, dass er angesichts seiner Krankheit vielleicht nicht mehr lange leben würde. Damals konnte man wenig für Bluterkranke tun. Man arrangierte eine Ehe mit der Tochter eines der Männer, die für Jussupow arbeiteten. Das Mädchen, meine Großmutter, war damals erst sechzehn, aber sie erfüllte die gesetzlichen Ansprüche an eine Zarin. Man sorgte für ihre Emigration, und die beiden wurden in einer Hütte hier in der Nähe von einem orthodoxen Priester getraut. Das Grundstück gehört mir noch immer.«
»Wie lange hat er noch gelebt?«, fragte Lord.
»Nur noch drei Jahre. Doch in dieser Zeit zeugte er meinen Vater. Das Kind war gesund. Die Bluterkrankheit wird über die weibliche Linie vererbt, niemals von einem Mann. Später hat Jussupow oft gesagt, selbst darin sei die Hand des Schicksals zu spüren. Hätte Anastasia überlebt und schließlich einen Sohn geboren, hätte der Fluch sich vielleicht fortgesetzt. Doch es endete mit ihrem Tod, und meine Großmutter brachte einen Sohn zur Welt.«
In Lord stieg eine sonderbare Traurigkeit auf. Das Gefühl erinnerte ihn an damals, als er vom Tod seines eigenen Vaters erfahren hatte. Eine seltsame Mischung aus Bedauern, Erleichterung und Sehnsucht. Er schob das Gefühl beiseite und fragte: »Wo liegen sie begraben?«
»Ein wunderschönes Plätzchen, mit Blauglockenbäumen bewachsen. Ich kann es Ihnen morgen zeigen.«
»Warum haben Sie uns vorhin belogen?«, fragte Akilina.
Thorn schwieg einen Moment lang. »Ich bin halb krank vor Angst. Dienstags gehe ich zum Rotary-Club und am Samstag angeln. Die Leute kommen mit Adoptionen zu mir, mit den Kaufverträgen für Häuser oder mit Scheidungen, und ich helfe ihnen. Jetzt aber fordert man mich auf, eine Nation zu regieren.«
Lord hatte Mitgefühl mit dem Mann, der ihm gegenübersaß. Er beneidete ihn nicht um seine Aufgabe. »Aber Sie könnten der Katalysator sein, der dieser Nation Ruhe und Stabilität bringt. Heute erinnert man sich des Zaren mit
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